Dominik Helbling

Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book)


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Die Bedeutung der Förderung und Entwicklung vernetzten Denkens als Ziel perspektivenübergreifenden Unterrichts ist besonders hervorzuheben. Vernetzendes Lernen als didaktisches Unterrichtsprinzip geht dabei von zwei Prämissen aus: Erstens muss Lernen vielperspektivisch stattfinden, indem im Unterricht verschiedene Aspekte zu einem Phänomen aufgezeigt werden, und zweitens müssen diese Perspektiven in Bezug auf einen Gegenstand (eine Fragestellung) verknüpft werden.[45]

      Fazit: Wann ist es sinnvoll, einen perspektivenübergreifenden Unterricht durchzuführen?

      Den Unterricht in NMG perspektivenübergreifend oder transperspektivisch durchzuführen ist dann sinnvoll, wenn das ausgewählte Unterrichtsthema vielperspektivisch und vielschichtig ist und sich die zentralen Fragen dazu deshalb auch nicht einfach mit «Ja» oder «Nein» beantworten lassen.

      So können Fragen wie zum Beispiel «Gehören Wölfe in unsere Wälder?» oder «Was ist ein guter Apfel?» nur dann sinnvoll beantwortet werden, wenn viele verschiedene sich gegenseitig beeinflussende Faktoren (Fakten, Annahmen, Thesen) berücksichtigt werden, die wiederum nur durch das Beiziehen von Wissensbeständen und methodischen Zugangsweisen unterschiedlicher fachlicher Perspektiven und/oder von Wissen betroffener Akteure befriedigend beleuchtet werden können.[46]

      Um zu einem sinnvollen perspektivenübergreifenden oder transperspektivischen Unterrichtsthema zu gelangen, ist es nützlich, einen inhaltlichen Fokus in Form einer übergeordneten Fragestellung zu formulieren, der die Beiträge der fachlichen Perspektiven bzw. der Beiträge betroffener Akteure filtert, zusammenführt und sinnvoll vernetzt. Für Lehrerinnen und Lehrer, die einen solchen Unterricht gestalten wollen, besteht die Herausforderung in einem ersten Schritt deshalb darin, eine solche komplexe und bildungsrelevante Fragestellung zu finden. Erst im zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, welche fachlichen Perspektiven von NMG bzw. welche Akteure einen Beitrag zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung leisten können. Durch die Formulierung einer übergeordneten Fragestellung wird der Unterrichtsgegenstand zudem eingegrenzt und die Vielzahl der möglichen fachlichen Perspektiven und deren inhaltliche und methodische Angebote reduziert.

      Vom Stichwort zum Unterrichtsthema

      Im Lehrplan 21 zum Fachbereich NMG finden sich zu den einzelnen Kompetenzstufen Stichworte zu verbindlich zu behandelnden Inhalten (z. B. «Lebensmittelverschwendung»), Stichworte zur freien Auswahl durch Lehrerinnen und Lehrer (z. B. «Znüni», «Zvieri», «einfaches Essen») oder gar keine Angaben. Auch Zeitschriften für die Praxis des Unterrichts in NMG[47] betiteln ihre Ausgaben oft mit knappen Stichworten wie «Tod und Trauer», «Insekten», «Weltraum», «Ernährung», «Leben in alter Zeit», «Vom Rad zum Roboter», «Spuren der Kindheit», um nur einige Beispiele der letzten Jahre zu nennen. Dasselbe ist anzutreffen, wenn anstatt Zeitschriften handelsübliche Unterrichtswerkstätten betrachtet werden – überall wird von Stichworten ausgegangen. Wie wir bereits am Beispiel eines Themenhefts zu «Wasser» gesehen haben, können daraus Probleme entstehen wie eine hohe Beliebigkeit der Inhalte und daraus resultierendes unverbundenes «Inselwissen» bei den Lernenden. Ginge man stattdessen als Unterrichtsthema von einer übergeordneten Fragestellung aus, liessen sich diese Probleme vermeiden.

      Welche Vorteile bringt es, ein Unterrichtsthema, ob zentriert auf nur eine fachliche Perspektive oder perspektivenübergreifend, in Form einer übergeordneten Fragestellung zu formulieren?

      •Eine übergeordnete Frage dient als roter Faden oder als Klammer einer Unterrichtseinheit. Einzelne Unterrichtssituationen des Unterrichtsprozesses stehen dadurch «in einem thematischen Zusammenhang […], der mit der Beantwortung der Frage seinen vorläufigen Abschluss findet»[48].

      •Der Unterricht dient weniger der Vermittlung von kanonisiertem Wissen als der gemeinsamen Suche nach möglichen Antworten. Eine Frage als roter Faden einer Unterrichtseinheit stimuliert somit Bildungsprozesse, da sie diese «als sinngebend und sinnerschliessend erleben lässt»[49].

      •Übergeordnete Fragestellungen legen den Fokus auf einen exemplarischen, bildungsrelevanten Sachverhalt und filtern dadurch die zur Sprache kommenden inhaltlichen und methodischen Beiträge der fachlichen Perspektiven.

      Die übergeordnete Fragestellung dient in erster Linie der Lehrperson, um auf der Grundlage des Lehrplans das Unterrichtsthema zu definieren und die daraus resultierenden übergeordneten Lernziele und zentralen Inhalte herauszuschälen. Ob die übergeordnete Fragestellung unverändert den Schülerinnen und Schülern bekannt gegeben wird, ist von der Lehrperson von Fall zu Fall zu klären, da dies von der Stufe, vom Vorwissen usw. abhängt.

Tabelle 4Unterscheidung von Stichwort, Bildungsinhalt und übergeordneter Fragestellung (vgl. Tänzer 2010)
Stichwort (Schlagwort, Gegenstand)Stichworte wie «Apfel», «Wasser» oder «Schokolade» sind noch nicht nach pädagogischen und fachdidaktischen Gesichtspunkten ausgewählt und geprüft und können somit nicht unterrichtsleitend sein.
Bildungsinhalt (Bildungspotenzial)«Wasser» als Stichwort oder Inhalt wird dann zum Bildungsinhalt, wenn sein pädagogisches und fachdidaktisches Potenzial innerhalb der Trias Kind–Sache–Gesellschaft ausgelotet wird: Inwiefern hat «Wasser» eine exemplarische Bedeutung für das Welterschliessen der Kinder?
Übergeordnete Fragestellung (Unterrichtsthema) Aufbauend auf der Bestimmung des Bildungsinhalts eines Stichworts wie «Wasser» ist das Unterrichtsthema das Ergebnis von Ziel- und Inhaltentscheidungen bezogen auf den konkreten Unterricht in Form einer übergeordneten Fragestellung, z. B. «Ist Wasser kostbar?»

      Bevor an Beispielen gezeigt wird, wie sich aus Stichworten konkrete Unterrichtsthemen in Form übergeordneter Fragestellungen formulieren lassen, sollen die Begriffe «Stichwort», «Bildungsinhalt» und «Übergeordnete Fragestellung» geklärt werden (siehe Tab. 4).

      Unter «Stichwort» wird ein Sachverhalt verstanden, der noch nicht aus pädagogischer Sicht betrachtet worden ist.[50] Erst wenn die Fragen, Vorstellungen und Denkweisen der Kinder und die inhaltlichen und methodischen Angebote der fachlichen Perspektiven von NMG ins Spiel kommen, kann das Bildungspotenzial des zur Auswahl stehenden Stichworts herausgearbeitet werden. Als Suchraster bietet sich die in Abbildung 3 dargestellte didaktische Trias Kind–Sache–Gesellschaft an.[51] Ist man dem Bildungspotenzial eines Stichworts auf die Spur gekommen, ist der nächste Schritt die Formulierung des eigentlichen Unterrichtsthemas in Form einer übergeordneten Fragestellung.

      Ausgangspunkt für die Formulierung übergeordneter Fragestellungen kann eine inhaltliche Angabe in Form eines (verbindlichen oder unverbindlichen) Stichworts aus dem Lehrplan 21 für NMG sein (z. B. «Lebensmittelverschwendung») oder ein von der Lehrerin oder dem Lehrer selbst gewähltes Stichwort (z. B. «Dinosaurier», siehe unten).

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      Wie oben beschrieben, besteht bei der Unterrichtsplanung ein erster Schritt in Richtung übergeordneter Fragestellung zunächst darin, mögliche Bildungsinhalte anhand der didaktischen Trias zu bestimmen. Der Aspekt «Kind» bezieht sich auf Begründungen zum Begriff der Lebenswelt, der Aspekt «Sache» geht von den inhaltlichen und methodischen Angeboten der fachlichen Perspektiven von NMG bzw. vom Akteurswissen beteiligter Akteure aus, der Aspekt «Gesellschaft» hat den Bildungsbegriff als Grundlage (siehe Abb. 3). Zwischen den drei Eckpunkten des Dreiecks bestehen jeweils Spannungsverhältnisse, so zum Beispiel zwischen «Kind» und «Sache». Auf der einen Seite stehen Fragen, Bedürfnisse, Vorwissen, kurz die Sichtweise der Kinder von der Welt, die für sich allein genommen zur Begründung von Bildungsinhalten nicht genügen. Auf der anderen Seite steht das inhaltliche und methodische Wissen der wissenschaftlichen Disziplinen von NMG (die «Sache»). Für Kahlert besteht die Aufgabe von NMG gerade darin, Kindern fachlich belastbares Wissen und Können zugänglich zu machen. Aber ohne Bezug zur kindlichen Lebenswelt wäre dieses Wissen steril.[52] Hinzu kommt – als zweites Spannungsverhältnis –, dass dieses Wissen und Können auch relevant sein sollte, um einen Beitrag zum Weltverstehen der Kinder