Dominik Helbling

Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book)


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zu den individuellen und persönlichen Lebensentwürfen der Kinder. Aus dem Zusammenwirken dieser drei Bereiche des Dreiecks und unter Berücksichtigung der bestehenden Spannungsverhältnisse lassen sich mögliche Bildungsinhalte bzw. darauf aufbauend übergeordnete Fragestellungen (Unterrichtsthemen) von NMG bestimmen.

      Die perfekte, allen Kriterien gerecht werdende Fragestellung gibt es allerdings nicht. Das Finden einer übergeordneten Fragestellung kann vielmehr als ein Annäherungsprozess verstanden werden mit dem Ziel, eine Balance zwischen den drei Eckpunkten der didaktischen Trias zu erreichen.[53] Wird dieser Anspruch im nachfolgenden Beispiel eingelöst?

      Dinosaurier als Unterrichtsthema?

      Am Beispiel des Stichworts «Dinosaurier» kann die Anwendung der didaktischen Trias zu folgenden inhaltlichen Aussagen führen:[54] Ausgehend vom Blickpunkt «Kind» lassen sich drei «Dinosaurier-Welten» unterscheiden. Die grausige, schreckliche Welt (Godzilla)[55], die nette, süsse Welt (Littlefoot)[56] und die reale Welt (Ausstellungen in Museen). Für alle fachlichen Perspektiven von NMG (Blickpunkt «Sache») sind relevante Wissensbestände und Fragestellungen zu finden. Für den Bereich Räume, Zeiten, Gesellschaften (RZG) könnten dies beispielsweise Fundorte, Periodisierungen, Überreste und Rekonstruktionen, Dinosaurier als Teil einer Populärkultur usw. sein. Für den Blickpunkt «Gesellschaft» kann die gerade speziell auf Kinder ausgerichtete Kommerzialisierung des Gegenstands «Dinosaurier» und der damit zusammenhängende Dino-Kult als Beispiel genannt werden. Diese wenigen Überlegungen weisen darauf hin, dass das Stichwort «Dinosaurier» einen potenziellen bildungsrelevanten Gegenstand von Unterricht darstellt.

      Ausgehend von den Überlegungen zum Bildungsinhalt des Stichworts «Dinosaurier» könnte die übergeordnete Fragestellung für eine vier- bis fünfwöchige Unterrichtseinheit in einer dritten/vierten Klasse lauten: Wie echt sind Dinosaurier wirklich?. Um zu klären, ob die übergeordnete Fragestellung geeignet ist, das Unterrichtsthema zu erschliessen, können, wieder angelehnt an die Trias Kind–Sache–Gesellschaft, folgende Prüffragen benutzt werden:

      •Ist die Fragestellung anschlussfähig an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler? Ist sie bedeutsam für die Gegenwart und Zukunft der Kinder? Die Frage, ob ein Gegenstand oder eine Frage echt oder fiktiv ist, beschäftigt Kinder schon sehr früh. Fasziniert stehen sie vor einem in einem Museum ausgestellten Gegenstand, wenn ihnen gesagt wird, dass er «echt» ist. Allgemein stellt die Fähigkeit, fiktives von gesichertem Wissen unterscheiden zu können, eine zentrale überfachliche Kompetenz dar.

      •Hat die Fragestellung das Potenzial, bildungsrelevant zu sein (z. B. im Sinne der Teilaufgaben von Bildung nach Heymann)? Die Fähigkeit, fiktives von gesichertem Wissen unterscheiden zu können, zielt vorwiegend auf die Teilaufgaben «Lebensvorbereitung» und «Anleitung zum kritischen Vernunftgebrauch» (siehe Tab. 3). Die Auseinandersetzung mit dem Wandel populärwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Vorstellungen zu einem Thema ermöglicht allgemeine Einblicke in die Art und Weise, wie Wissen entsteht, und fördert die Einsicht in dessen Vorläufigkeit.

      •In Bezug auf den Lehrplan: Lässt sich die Fragestellung aus den Kompetenzen von NMG herleiten? Obschon im Lehrplan 21 als inhaltliches Stichwort nicht aufgeführt, lässt sich das Unterrichtsthema perspektivenübergreifend an verschiedene Kompetenzbereiche des Lehrplans sinnvoll anbinden (siehe Abb. 4).

      •Können durch die Fragestellung elementare Wissensbestände mehrerer Perspektiven von NMG erschlossen und zueinander in Beziehung gesetzt werden im Sinne eines perspektivenübergreifenden Unterrichts? Oder: Können Akteure identifiziert werden, die neue und andere Wissensbestände und Sichtweisen zur Beantwortung der Frage beisteuern können im Sinne eines transperspektivischen Unterrichts? Die Fragestellung kann nur unter Beiziehung unterschiedlicher fachlicher Wissensbestände befriedigend angegangen werden (siehe dritten Punkt).

      •Ist die Fragestellung komplex und kann deshalb weder mit einer einfachen Zustimmung noch Ablehnung beantwortet werden? Enthält sie Spannungsfelder zwischen unterschiedlichen Interessen oder zwischen Haupt- und Nebenfolgen von Entscheidungen oder Verhaltensweisen? Durchaus, da eine einfache und abschliessende Antwort bei dieser Fragestellung nicht möglich ist: Eine Diskussion um «echt» oder «fiktiv» ist schon aus erkenntnistheoretischen Überlegungen nicht einfach zu führen.

      Die knappe Beantwortung der Prüffragen bestätigt, dass es tatsächlich pädagogisch sinnvoll sein könnte, wenn sich Schülerinnen und Schüler über längere Zeit mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern Dinosaurier echt sind. Ausgehend von der übergeordneten Frage und einer darauf basierenden Sachanalyse könnten Schülerinnen und Schüler unter anderem untersuchen, wie und warum sich die Darstellungen von Dinosauriern im Laufe der Zeit verändert haben. Zentrale Ziele eines an dieser übergeordneten Frage ausgerichteten Unterrichts lägen dann darin, die Herkunft unseres Wissens und unserer Bilder zu hinterfragen und über Grundlagen für die Unterscheidung zwischen Realem und Fiktivem nachzudenken. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass dieses Unterrichtsthema aufgrund der übergeordneten Fragestellung das Potenzial besitzt, Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, «Phänomene und Zusammenhänge der Lebenswelt wahrzunehmen und zu verstehen, selbstständig, methodisch und reflektiert neue Erkenntnisse aufzubauen, Interesse an der Umwelt neu zu entwickeln und zu bewahren, anknüpfend an vorschulische Lernvoraussetzungen und Erfahrungen eine belastbare Grundlage für weiterführendes Lernen aufzubauen, in der Auseinandersetzung mit den Sachen ihre Persönlichkeit weiter zu entwickeln sowie angemessen und verantwortungsvoll in der Umwelt zu handeln und sie mitzugestalten»[57].

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      Perspektivenübergreifendes Sachlernen in Kindergarten und Unterstufe?

      Es ist in diesem Text wiederholt darauf hingewiesen worden, dass sich der Unterricht in NMG auf Wissen und Methoden von Fachperspektiven bezieht. Kann und soll dieser Anspruch auch auf den ersten Zyklus, also Kindergarten und Unterstufe, bezogen werden? Sind vier- bis achtjährige Kinder überhaupt in der Lage, sich mit komplexen, perspektivenübergreifenden Fragen auseinanderzusetzen? Oder anders formuliert: Welche Voraussetzungen bzw. Kompetenzen brauchen Kinder, um sich mit solchen Fragen beschäftigen zu können?

      Die Bedingungen und Ansätze für das Sachlernen in Kindergarten und Primarstufe unterscheiden sich in einigen Aspekten erheblich voneinander. So stehen im Kindergarten eng auf die Lebenswelt und den motorischen, ästhetischen, kognitiven, emotionalen, sozialen und persönlichen Entwicklungsstand bezogene Zugänge im Vordergrund. Die Stärken dieses Ansatzes sind die hohe Beobachtungskompetenz der Kindergärtnerinnen und Kindergärtner in Bezug auf die individuellen Prozesse der Kinder, die Berücksichtigung der Komplexität der Lebenswelt und der Entwicklung der Kinder und eine grundsätzlich kindzentrierte Didaktik und Pädagogik, die sich durch hohen Alltagsbezug auszeichnet.[58] Lernen findet oft noch beiläufig statt, zum Beispiel beim Beobachten, Imitieren, Mitmachen, im Gespräch und im freien Spielen. Erst später bzw. nach und nach wird dieses eher beiläufige Lernen durch ein systematisches, von äusseren Lerninhalten geprägtes Lernen abgelöst, und die Schülerinnen und Schüler werden fähig, inhaltlich und methodisch mit fachspezifisch ausgerichteten Aufgaben umzugehen.

      Wie soll der geschilderte Übergang konkret im Fachbereich NMG vollzogen werden? Wie sollen die oft beiläufigen (zufälligen), selbsttätigen und spielerischen Formen des Lernens im Kindergarten zu absichtsvollen und fachbezogenen Lernprozessen innerhalb des Fachbereichs NMG der Primarstufe werden? Der Perspektivrahmen Sachunterricht nennt folgende überfachliche Fähigkeiten, Wissensbestände und Einstellungen, die in frühen Lernprozessen erworben werden und dann im NMG-Unterricht der Primarschule weitergeführt und systematisiert werden sollen:[59]

      •Explorieren und Erfahren: Die Kinder erkunden die Welt und ihre Phänomene eigenaktiv und werden sich ihrer Erfahrungen bewusst, indem sie mit anderen kommunizieren. Um nicht nur Wissen zu erwerben, sondern auch Bewegungslust, Aufgeschlossenheit, Lust am Ausprobieren, Ausdauer usw. zu entwickeln, brauchen Kinder unterschiedliche anregende, offene und attraktive Angebote und Spielräume.

      •Implizites Wissen und Begriffsbildung: Frühkindliches implizites Wissen ist zunächst