Dominik Helbling

Nachdenken und vernetzen in Natur, Mensch, Gesellschaft (E-Book)


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Wissenschaft hat zwei Antriebe: Sie möchte die Welt verstehen und sie möchte das menschliche Leben optimieren. Die Unwissenheit bildet dabei eine starke Motivation, denn Wissenschaft möchte die Welt erklären. All das, was interessant ist, hat eine Ursache, die verstanden werden möchte. Wissenschaft stellt Zusammenhänge her, objektiviert, weist die Reichweite und Gültigkeit einer Aussage aus. Erkenntnisse gelten so lange, bis sie widerlegt sind.

      Dabei hat jede Wissenschaft ihr eigenes Erkenntnisinteresse und ihre eigenen Instrumente, um sich ihre Fragestellungen zu beantworten. Die verschiedenen Wissenschaften sind nicht gegeneinander auszuspielen, sind nicht ersetzbar. Sie sind eigenständige Modi der Welterschliessung.[74] Wenn man eine Maschine herstellen möchte, benötigt man dazu Mathematik, Physik und Ingenieurswissen. Bei der Frage, welche Sozialstrukturen Menschen in der Eiszeit gehabt haben, nützen diese Fähigkeiten jedoch wenig, man benötigt die Archäologie und die Geschichtswissenschaft dazu. Wenn wir umgekehrt eine Ortschaft effektiv vor Lawinen schützen wollen, dann benötigen wir Wissen über Wetter, Vegetation, Gefälle usw. Verfügen wir über hermeneutische Fähigkeiten, um den Hintergrund eines Romans zu verstehen, nützt uns dies dabei herzlich wenig.

      Wissenschaftliche Fragen kümmern sich um einen ganz bestimmten, reduzierten Ausschnitt der Welt. Sie dienen dazu, ein ganz bestimmtes Problem aus einer fachlichen Perspektive zu verstehen, eine Lösung zu finden und diese zu beweisen.

      Philosophische Fragen

      Das Philosophieren setzt einen anderen Schwerpunkt. Es will ergründen und begründen. Weil viele Fragen nicht abschliessend beantwortet werden können, leistet es sich den Luxus, keine Antwort vorzugeben. Die Philosophie ergründet das Wesen einer Sache, geht daher umfassend darauf zu, bezieht dabei Erkenntnisse anderer Wissenschaften mit ein und sucht nach dem inneren Zusammenhang.

      Philosophische Fragen entstehen dort, wo man sich wundert, wo etwas fragwürdig und geheimnisvoll ist. Sie zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus: Sie

      •sind nicht eindeutig zu beantworten, sondern benötigen oft mehrere Perspektiven, weil sie sehr umfassend gestellt sind;

      •ergründen das Wesen einer Sache, indem sie nach dem Ganzen oder nach dem Kern fragen, nicht allein nach einem bestimmten Ausschnitt;

      •fragen nach Bedeutung und Sinn für den Menschen, die Gesellschaft, das Leben oder die Natur;

      •sind ergebnisoffen, weil nicht bereits eine Antwort vorgegeben ist, weil es vielleicht Alternativen gibt.[75]

      Viele philosophische Fragen entstammen Alltagserfahrungen; doch nicht jede Alltagsfrage führt zu einer philosophischen Frage. Auch stellen Kinder zuweilen sehr philosophische Fragen; dennoch wäre es vermessen, jede Kinderfrage als eine philosophische Frage zu bezeichnen.

      In einem tabellarischen Überblick lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen (siehe Tab. 2):

Tabelle 2Fragevarianten und ihre Merkmale
Gemeinsam ist allen Fragen, dass sie etwas in Erfahrung bringen wollen
AlltagsfrageKinderfrageWissenschaftliche FragePhilosophische Frage
Umfang und Zugangunsystematisch – spontan, ausschnitthaftunsystematisch – spontan, grundsätzlichsystematisch – geplant, ausschnitthaftsystematisch –geplant, grundsätzlich
ZielInformationOrientierungBeweisErgründen und Begründen
Funktion der Frageformuliert ein alltagspraktisches Anliegenformuliert ein Staunen und Wunderngrenzt ein bestimmtes wissenschaftliches Problem einhinterfragt ein Phänomen umfassend
Qualität der Fragehäufig eindeutig beantwortbarhäufig nicht eindeutig beantwortbarsollte eindeutig beantwortbar seinnicht eindeutig beantwortbar
Funktion der Antwortalltagspraktischer Nutzenbringt Ordnung ins eigene WeltverstehenLösung eines wissenschaftlichen Problemsbegreifen eines Phänomens
Qualität der Antwortnützlich oder nicht nützlichintegrierbar oder nicht integrierbarnachprüfbar, richtig oder falschbegründet oder nicht begründet

      Der Welt auf den Grund gehen. Oder: Was ist Philosophieren?

      Philosophie bedeutet «Liebe zur Weisheit», eine Philosophin ist eine «Freundin der Weisheit» (griech. philo = Freund, Liebe; sophia = Weisheit). Sie sammelt und systematisiert Wissen zu grundlegenden Fragen menschlicher Existenz, indem sie möglichst präzis und lückenlos denkt und die Grenzen dieses Denkens auslotet.

      Man unterscheidet zwischen esoterischer und exoterischer Philosophie. Erstere beschäftigt sich damit, was Philosophinnen und Philosophen zu bestimmten Sachverhalten gesagt haben und wie damit etwas besser verständlich wird (Fachphilosophie). Letztere ist das eigene Philosophietreiben, das selbstständige Nachdenken (Alltagsphilosophie). Wenn von Philosophieren die Rede ist, ist dieser Prozess gemeint: das scheinbar Selbstverständliche nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern es skeptisch und konsequent durchzudenken. Das Qualitätsmerkmal des Philosophierens ist nicht, ob eine Aussage richtig oder falsch, sondern schlüssig und lückenlos begründet ist statt widersprüchlich, lückenhaft und inkonsistent. In der Volksschule betreiben wir keine systematische Philosophiegeschichte, sondern philosophieren miteinander. Es geht also nicht etwa darum, ein Fach Philosophie einzurichten, worin es um Konzepte und Personen der Philosophiegeschichte geht. Die Wege des Philosophierens in der Volksschule werden vielmehr wie folgt beschrieben:

      •Staunen: Es gibt den Anstoss zur Erforschung und zum Nachfragen;

      •Fragen: Sie fokussieren, verlangen nach Klärung, nach Tatsachen, nach Verstehen;

      •Nachdenken: bedeutet Klären, Unterscheiden, Gründe prüfen;

      •Zweifeln: Indem wir zweifeln, stellen wir Aussagen infrage und nehmen das Vorgegebene nicht ungefragt hin. So gelangen wir zu tieferer Klärung;

      •Weiterdenken: Es bedeutet, dass das Nachdenken unabgeschlossen ist, dass es immer wieder neue Aspekte zu entdecken gibt;

      •Infragestellen: Man kann Erkenntnisse erweitern und Meinungen revidieren.[76]

      Man kann sich diesen Prozess auch als Kreislauf vorstellen (siehe Abb. 3).

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      Nach dem bedeutenden Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) sind philosophische Fragen in vier Grundfragen zu bündeln: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Diese drei Fragen münden nach Kant in einer vierten: Was ist der Mensch? Diese Fragen lassen sich wie in Tabelle 3 dargestellt konkretisieren.[77]

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Tabelle 3Philosophische Grundfragen nach Kant mit Beispielen
Grundfrage der PhilosophieDisziplinInteresse und Fragen
Was kann ich wissen?Epistemologie (Erkenntnislehre)Fragt nach dem Wahren, nach Umfang, Qualität, Zuverlässigkeit, Gewissheitsgrad und Erkenntnismethoden des Wissens. Z. B.: Kann man etwas mit Sicherheit wissen? Wie kommt man überhaupt zu Erkenntnis? Wo liegen die Grenzen menschlicher Erkenntnis? Nach welchen Regeln können wir Erkenntnis überprüfen? Wie können wir Wissen überhaupt ausdrücken? Ist Verständigung überhaupt möglich?
Was soll ich tun?Ethik (Moralphilosophie)Fragt nach dem Guten, dem Wohl des Menschen und seiner Umgebung und danach, ob man Moral, Gesetze und Konventionen sinnvoll begründen kann. Z. B.: Was ist Glück? Woran sollen wir unser Handeln ausrichten? Gibt es völlig verbindliche Normen und wie werden sie begründet? Was ist gut/böse, richtig/falsch? Ist der Mensch verantwortlich für sein Handeln? Ist der Mensch frei?
Was darf ich hoffen?ReligionsphilosophieFragt nach dem Sinnhaften, dem Sinn des Lebens, unseren