Lehrperson hat diese Fragen nicht erwartet und war entsprechend nicht darauf vorbereitet. Sie weicht aus und wiederholt die Aussage von Simone bzw. behauptet, dass man die Frage von Dragan nicht beantworten könne.
•Die Aktivität liegt allein bei der Lehrperson, obwohl sie keine kompetente Auskunft geben kann. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht beteiligt.
•Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass es auf alles eine Antwort gibt und dass gewisse Dinge vorgegeben sind, weshalb man gar nicht darüber nachzudenken braucht.
Die Lehrperson hat sich hier eine grosse Chance für sich und die Schülerinnen und Schüler vergeben. Was kann einem als Lehrperson Besseres passieren, als dass sich die Schülerinnen und Schüler für einen Gegenstand interessieren und Fragen dazu stellen? Hätte sie in dieser Situation auch noch anders reagieren können? Einige Möglichkeiten:
•Zugeben, dass sie sich die Frage auch noch nicht überlegt habe und darauf keine Antwort wisse und sich deshalb erst kundig machen müsse.
•Die beiden Fragen an die Tafel schreiben und mitteilen, dass sich die Klasse zu einem späteren Zeitpunkt darüber unterhalten werde.
•Die anderen Schülerinnen und Schüler fragen, ob sie noch weitere solche Fragen hätten.
•Simone beauftragen, sie solle in der Bibliothek ein Sachbuch besorgen und schauen, ob darin etwas zum Weinen stehe, oder im Internet recherchieren.
•Den Schülerinnen und Schülern und sich selbst die Hausaufgabe geben, über Dragans Frage nachzudenken.
•Ein Gespräch gestalten zu den gesammelten Fragen.
Lehrpersonen gehen unterschiedlich mit Fragen um, wobei sich zwei Formen beobachten lassen:[70]
•Die Validierung: Wir sind überzeugt, dass es auf es jede Frage eine eindeutige Antwort geben muss. Dazu vereinfachen wir ein Problem, erfinden Antworten oder behaupten, dass etwas einfach «so ist, wie es ist». Als Lehrpersonen stehen wir sozusagen unter einem Validierungszwang, weil wir es als unsere Aufgabe erachten, Antworten zu geben. Was die Schülerinnen und Schüler dabei lernen: Auf alles gibt es vermeintlich eine Antwort und die Lehrperson weiss sie. Fragen lohnt sich daher nicht, Autoritäten wissen sowieso besser Bescheid, also lohnt sich auch das Nachdenken nicht.
•Die Modalisierung: Das Gespräch wird geöffnet, man lässt mehrere Deutungsmöglichkeiten und konkurrierende Umgangsweisen zu. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei: Alles ist fragwürdig, oft gibt es keine eindeutigen oder sogar mehrere Antworten und wir denken gemeinsam nach.
Dass die Lehrperson im obigen Beispiel die Fragen sofort «validiert», ist kein Einzelfall. In der Schule wird häufig so getan, als ob die Rätsel der Welt gelöst seien. Dies ist ein grosser Irrtum, denn wir wissen längst noch nicht alles und es stellen sich uns immer wieder neue Fragen; was wir zu wissen glauben, ist vorläufig und zeitgebunden und bedarf deshalb immer wieder einer Überprüfung; es gibt Fragen, die nicht mit eindeutigem Wissen beantwortbar sind.
In der Schule werden die Schülerinnen und Schüler häufig mit dem Wissen der Erwachsenen belehrt. Wir hindern sie so daran, selbstständig nachzudenken. Eine solche Welt, die bereits vermessen und in der alles geklärt ist, ist zudem ziemlich langweilig. Das Philosophieren setzt genau hier an: Es hinterfragt alles und macht das Staunenswerte, Rätselhafte, Abgründige und Fragwürdige zum Mittelpunkt des Lernens. Wie das obenstehende Beispiel illustriert, gibt es bei fast allen Unterrichtsgegenständen solch staunenswerte, rätselhafte, abgründige und fragwürdige Aspekte. Damit wird Unterricht enttrivialisiert (trivial = unbedeutend, platt, abgedroschen) und trägt zur Vertiefung und Bereicherung fachlichen Lernens bei.[71] Es reagiert auf Fragen daher in der Form der Modalisierung. Damit werden folgende Signale gesetzt: Fragen sind erwünscht und notwendig, wenn man etwas wissen möchte; viele Dinge sind ungeklärt, das Nachdenken darüber lohnt sich; die Wirklichkeit ist vielschichtig, oft gibt es nicht nur eine einzige Perspektive auf einen Gegenstand. Fragen und miteinander nachdenken sind ein Akt und eine Schule der Freiheit. Die Schülerinnen und Schüler dürfen und sollen selbst und eigenständig nachdenken (lernen).
Wer nicht fragt, bleibt dumm. Oder: Wozu dienen Fragen?
Fragen sind demnach ein Antrieb, die Welt zu ergründen. Für den bedeutenden Kommunikationswissenschaftler Neil Postman gelten sie daher als bedeutsamstes intellektuelles Werkzeug, das Nachdenklichkeit, kritisches Denken, eine skeptische Haltung und Vernunftgebrauch fördert.[72]
Obwohl alle Fragen sprachlich die Funktion haben, etwas in Erfahrung zu bringen, gibt es dennoch unterschiedliche Arten von Fragen. Sie können systematisch-geplant oder unsystematisch-spontan gestellt werden; sie können sich mit einem spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit beschäftigen oder mit dem Grundsätzlichen. Um philosophische Fragen von anderen Fragen unterscheiden zu können, hilft uns das Denkmodell in Tabelle 1.
Alltagsfragen
Im Alltag stellen wir häufig Fragen, weil wir eine bestimmte Information benötigen: «Wo ist der nächste Bankomat?», wenn wir Geld brauchen. «Wann beginnt die Veranstaltung?», wenn wir zur rechten Zeit sein möchten. «Wer kommt zur Sommerparty?», wenn wir Geschirr und Stühle bereitstellen möchten. Diese Fragen stellen sich aus einem bestimmten Anlass heraus spontan und unsystematisch; sie sind jedoch zweckgerichtet und machen einen unmittelbar handlungsfähig. Wenn jemand weiss, wie viele Leute an der Party teilnehmen, kann er verlässlich planen. Der Wert der Antwort bemisst sich daran, ob sie nützlich oder nicht nützlich ist.
Kinderfragen
Dass Kinder früh damit beginnen, Fragen zu stellen, wissen alle, die schon einmal die bohrenden Warum-Fragen erlebt haben, die Kinder im Alter von vier oder fünf Jahren stellen. Diese haben die Funktion, vorgegebene Muster infrage zu stellen und sich selbst in der Welt orientieren zu können. Nicht die Vorgabe der Eltern zählt, sondern das eigene Verstehen. Kinder erleben die Welt als Ganzes, nicht in einzelne Teile gegliedert. Sie kommt ungeordnet und noch ohne erkennbare Regeln auf sie zu, sie erleben sie holistisch. Der Umgang mit der Welt führt einem vor Augen, dass sie Regeln hat. Zunächst entdecken Kinder, dass Gegenstände und lebendige Menschen zwei unterschiedliche Dinge sind. Sie wenden sich mehr den Menschen zu, weil sie eine Reaktion erhalten. Danach erleben sie Dinge unmittelbar, zum Beispiel beim Spiel im Sandkasten. Sie erfahren, dass man toll damit bauen kann, aber auch, dass er kratzt und nicht zum Essen geeignet ist. Mit der Zeit beginnen sie selbst Fragen zu stellen. Ging man früher davon aus, dass Kinder erst mit etwa zehn Jahren anfangen, systematisch zu denken, so weiss man heute, dass dies ein kontinuierlicher Prozess ist. Kinder machen sich selbst eine Vorstellung davon, wie die Welt «ist», verfügen also über eigene Konzepte und Konstrukte, um sich die Welt erklären und damit umgehen zu können. Mit ihren Fragen schaffen sie sich Ordnung, machen sich die Welt verständlich und bilden Zusammenhänge.[73]
Solche Fragen beziehen sich auf Dinge, über die sich ein Kind wundert. Beispiele für solche Fragen sind in Abbildung 2 dargestellt.
Die Antworten bringen Ordnung in das eigene Weltverstehen, stellen Zusammenhänge her und schaffen Orientierung. Sie erfüllen dann ihren Zweck, wenn sie in das bestehende Weltverstehen des Kindes integrierbar sind. Für Erwachsene sind viele Dinge ganz selbstverständlich geworden, über die sich ein Kind noch wundern kann. Dass Kinder mit diesen Fragen ernst genommen werden, ist für sie eine grundlegende Erfahrung, die für ihr Leben wichtig ist. Zuweilen stellen jedoch auch Jugendliche und Erwachsene solche Fragen. Wer schon einmal an einem Lagerfeuer mit Jugendlichen erlebt hat, wie sich für sie plötzlich alles zusammenzufügen scheint, kennt dieses Gefühl. Wer bei einem tiefen Gespräch mit Freundinnen oder Freunden die Zeit und alles um sich herum vergisst, meint, die Geheimnisse der Welt würden sich in diesem Augenblick offenbaren.