ganzen aufregenden Dinge, die ich mit ihm in der von ihm geleiteten Pfadfindergruppe erlebt hatte. Ach ja, und die riesigen Kuchen meiner Mutter, über die wir Pfadfinder uns jedes Mal wie eine Meute Wölfe hermachten. Meine Mutter … sie hatte immer als Erste die Hand gehoben, wenn in der Pfadfindergruppe Fahrer gebraucht wurden.
All die Erinnerungen. Nach dem Tod der beiden hatte ich sie einfach nicht ertragen. Deshalb war ich auch aus der Pfadfindergruppe ausgetreten. Jetzt kommt es mir vor, als wären die Erlebnisse meiner Jugend auch nur Abenteuer aus dem Buch. Und meine Eltern? Sie waren dabei wie die Freunde, die ich jedes Mal zurücklassen musste, wenn ich eine Geschichte verließ. Dieser Gedanke gefällt mir, denn es könnte doch vielleicht sein, dass meine Eltern in einer Parallelwelt weiterlebten?
Doch kommen wir wieder zurück zu unserer Geschichte, wo mein Blick gerade auf ein Gebäude der Deutschen Post landete. Instinktiv machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich wollte nur eines, nach Hause telefonieren. Technisch war es möglich, aber praktisch? Aus der Reihe an Telefonbüchern der verschiedenen Regionen Deutschlands suchte ich das passende Verzeichnis heraus. Doch ich fand weder Peter Francis noch Willi Funke und das brachte mich wieder zurück in diese Welt der Nichtexistenz. Oder existiert meine Welt zu Hause ebenso wenig? Ich klappte das Telefonbuch zu und ließ es in den Ständer zurückgleiten, wo es genau wie meine Gedanken noch ein bisschen hin- und herpendelte. Ich hätte gerne noch einmal mit meinen Eltern gesprochen. Bei dem Gedanken lief mir allerdings ein kalter Schauer über den Rücken. Denn wenn das möglich gewesen wäre, hätte ich auch mit mir selbst sprechen können. So hatte ich einen Beweis mehr dafür, dass es sich bei den Geschichten nicht um Zeitreisen handelte, sondern eher um eine gleichartige Parallelwelt.
In den nächsten beiden Stunden verschwand meine melancholische Stimmung allmählich. Ich machte mich vertraut mit der Umgebung und stöberte in den Seitenstraßen des Gänsemarktes. Als Letztes schlenderte ich in die Drogerie Bukowski. Dort deckte ich mich mit ein paar Badezimmerartikeln ein. Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierzeug, Deo, Duschgel, Shampoo und auch ein paar Tempotaschentüchern. Die sind bei diesem Wetter bestimmt angebracht. Hatschi! Als ich beim Bezahlen das überquellende Portemonnaie sah, überlegte ich mir, einen Teil des Geldes lieber irgendwo zu deponieren, um nicht immer alles mit mir herumschleppen zu müssen. Zurück in der Pension fragte ich also, ob es so etwas wie einen Safe gäbe. Es gab einen. Ich bekam einen Umschlag von Frau Gerhard und schob viertausendfünfhundert Mark hinein. Meine Wirtin quittierte den Empfang und schloss den Umschlag in ihrem Panzerschrank im Büro ein.
Ich ging in meine Kajüte, wie ich mein Zimmer in Erinnerung an mein letztes Abenteuer nannte, und deponierte die Drogerieartikel im Badezimmer. Anschließend begab ich mich nach unten in den kleinen Speiseraum, wo eine ordentliche Portion Rindsgulasch mit Nudeln auf mich wartete. Nach dem Essen verbrachte ich einige Zeit mit dem Abendblatt und der Fernsehzeitschrift. Dann – so gegen sieben Uhr – machte ich mich auf den Weg zum Albatros. Ich wollte mit den Einheimischen in Kontakt treten. Ich hoffte, dass ich so mehr über die Morde erfahren würde. Quasi aus erster Hand ohne schwarz-weiße Nachrichtensprecherin und Druckerschwärze. Im Flur vor meinem Zimmer traf ich auf Frau Gerhard und erzählte ihr von meinem Vorhaben, ausgehen zu wollen.
»Seien Sie bitte recht vorsichtig, Herr Francis, vor allem bei den U-Bahn-Stationen«, entgegnete sie fürsorglich.
»Warum gerade da?«
»Haben Sie denn noch nichts von diesen entsetzlichen Morden gehört?«
»Nicht nur gehört. Als ich heute Morgen ankam, wurde gerade ein Opfer weggebracht.«
»Oh, Herr Francis, was für ein schrecklicher Anblick.«
»Viel war nicht zu sehen, die Polizei hatte alles abgeriegelt … Äh, Sie haben eben angedeutet, dass es gerade bei den U-Bahn-Stationen gefährlich ist, wieso da?«
»Na, weil die Morde doch immer da passiert sind und immer nachts.«
»Das war heute der dritte, oder?«
»Schrecklich, nicht wahr? Und dann noch die Vermissten. Da gibt es bestimmt einen Zusammenhang, so steht das auch in der Zeitung. Ich für meinen Teil werde in nächster Zeit nicht im Dunkeln vor die Tür gehen. Und Sie sind bitte auch schön vorsichtig, denn bis jetzt waren die Opfer immer junge Burschen«, sagte sie und sah mich sorgenvoll an. Anscheinend wieder eine Wirtin, bei der ich den Beschützerinstinkt geweckt habe.
»Eben, junge Burschen«, erwidere ich, »also bin ich doch aus der Nummer raus!«
»Herr Francis, Sie sind doch noch so jung.«
»Na, und Sie erst, werte Frau Gerhard! Ihre Schulzeit kann doch noch gar nicht so lange her sein.«
Lächelnd winkte sie ab und ich verabschiedete mich von der nun deutlich weniger sorgenvoll dreinblickenden Dame. Ohne mir ein schützendes Kruzifix mitzugeben, ließ diese Wirtin mich gehen.
***
Die Stimmung im Albatros war ausgelassener als am Morgen. Da war der Laden zwar ebenfalls gut besucht gewesen, aber es war doch etwas ruhiger zugegangen. Die morgendliche Trägheit hatte den Gästen noch in den Gliedern gesteckt. Jetzt war die Musik lauter und poppiger, Billy Idol schrie rebellisch aus den Boxen. Die jungen Frauen waren greller geschminkt, die Frisuren höher gesteckt und aufgeplustert, von den Hüften standen kurze Tüllröcke ab, die Beine steckten in knalligen Neon-Netzstrumpfhosen. Und um noch eins draufzusetzen, hatten viele ihre Waden mit bonbonfarbenen Stulpen geschmückt. Nietenarmbänder waren bei Jungen und Mädchen beliebt.
An den Tischen hatten sich kleine Grüppchen versammelt. Darunter waren auch einige, die schon das mittlere Lebensalter erreicht hatten und sich, wie sagt man, locker und unauffällig kleideten; so wie ich. Ein Glück, dass sich in dem Koffer normale Klamotten befunden hatten und nicht etwa irgendwelche Jacketts mit ausladenden Schulterpolstern oder so. Ich wollte gerade am Tresen Platz nehmen, als mir jemand auf die Schulter tippte.
»Ja, bitte!«, sagte ich im Umdrehen und blickte in rehbraune Augen.
»Hi, auch wieder da.«
»Oh, arbeiten Sie etwa immer noch? Oder schon wieder?«
»Nein, ich bin mit ein paar Freunden hier … Na, und haben Sie ein Zimmer bei Frau Gerhard bekommen?«
»Oh ja, vielen Dank für den Tipp, echt super da.«
»Frau Gerhard ist eine sehr nette … Ähm, wenn Sie wollen, kommen Sie doch zu uns an den Tisch. Oder sind Sie mit jemandem verabredet?«
»Nö!« Ich schüttelte den Kopf. »Bin ganz alleine hier.«
»Dann kommen Sie, ich möchte Ihnen ein paar Freunde vorstellen. Ich bin Vanessa.«
Weiß ich doch schon längst. Ich tat aber so, als wüsste ich es nicht und stellte mich ebenfalls vor: »Hallo Vanessa, ich bin Nick.«
Wir sahen uns in die Augen. Sie lächelte. Die leuchtend roten Lippen bildeten einen Kontrast zu der hellbraunen Haut. Sie griff nach meiner Hand und zog mich mit. Während ich ihr hinterher taperte, bewunderte ich die wilden pechschwarzen Locken. Unter einer engen Hose und einer ebensolchen Bluse zeichnete sich ihr makelloser Körper ab ... Halt, Stopp! Jetzt habe ich genug geschwärmt.
Also, wie war das noch? Ich taperte hinter der zierlichen Schwarzhaarigen her, bis wir einen Tisch erreichten, an dem eine Frau und zwei Männer saßen.
»Hey Leute! Darf ich euch Nick vorstellen, einen netten Kerl, den ich heute Morgen bei meiner Frühstücksschicht kennengelernt habe.«
Freundliche Begrüßungsworte schallten mir entgegen und Vanessa zeigte auf einen nach dem anderen und nannte mir die Namen:
»Also Nick, das ist Klaus, das meine Freundin und Kommilitonin Alexandra, kurz Alex, und zu guter Letzt haben wir hier noch Dirk. Er ist Koch hier im Albatros, hat aber heute seinen freien Abend. Setz dich«, bat Vanessa und wies auf den einzigen freien Stuhl, während sie sich umdrehte und am Nebentisch fragte:
»Ist der Stuhl hier noch frei?«
»Kannste haben!«
»Danke!«