Und ich hörte: »Hallo, Fräulein!«
»Entschuldigen Sie, es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich darf die anderen Gäste nicht vernachlässigen.«
»Selbstverständlich, vielleicht sieht man sich mal wieder.«
»Würde mich freuen«, sagte sie lächelnd und drehte sich um. Ihre schwarzen Locken flogen hinter ihr her, als sie zum Nebentisch ging.
***
Das Leuchtschild mit der Aufschrift Pension Gerhard – Zimmer frei zeigte mir mein nächstes Ziel. Doch bevor ich mir ein freies Zimmer organisierte, besorgte ich mir erst einmal eine Zeitung an dem Kiosk, der auf dem Weg lag.
»Moin, ich hätte gern das Hamburger Abendblatt.«
»Einmal Abendblatt – bitte sehr, macht eine Mark, der Herr!«
Geld und Zeitung wechselten die Besitzer, dabei fragte ich:
»Erscheint die Zeitung täglich?«
Fragend schaute mich der Verkäufer an: »Ja, wenn sie nur einmal die Woche rauskäme, wäre es doch eine Wochenzeitung und keine Tageszeitung?!«
»Da haben Sie auch wieder recht. Wissen Sie, ich war mal an zwei besonderen Orten und da gab es nur eine Zeitung pro Woche.«
»Wenn Sie unbedingt wollen … ich habe auch Zeitungen, die nur einmal in der Woche herauskommen. Hier … die Fernsehzeitung zum Beispiel. Für achtzig Pfennig ist es Ihre.«
»Okay, nehme ich auch.«
Ein weiteres Mal wechselten Gegenstände die Besitzer. Als ich die Zeitungen zusammenrollen wollte, sprang mir die fett gedruckte Schlagzeile des Abendblattes entgegen: Wann wird der Schlächter von Hamburg wieder zuschlagen?
»So ganz aktuell ist Ihre Zeitung aber nicht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Weil der Schlächter bereits wieder zugeschlagen hat.«
»Habe ich gehört. Das wird bestimmt morgen drinstehen.«
»Na, dann bis morgen. Schönen Tag noch.«
»Danke, Ihnen auch!«
Obwohl ich sehr neugierig auf den Schlächter-Artikel war, sodass ich ihn am liebsten an Ort und Stelle gelesen hätte, rollte ich die Zeitungen zusammen und machte mich samt Lesematerial auf den Weg zur Pension. Dort empfing mich eine rundliche kleine Frau, ich schätzte sie auf Mitte bis Ende sechzig. So wie es aussah häkelte sie gerade an einem Platzdeckchen. Als sie mich sah, legte sie ihre Handarbeit zur Seite, hieß mich herzlich willkommen und stellte sich als Frau Gerhard vor. Ich teilte ihr mit, dass ich für ein paar Tage ein Zimmer suchte. Mit einem Lächeln gab sie mir ein Formular, welches ich pflichtbewusst ausfüllte. Als ich damit fertig war, wollte sie noch meinen Ausweis sehen, doch natürlich fand ich keinen bei mir. Um nun das Ausweisdefizit auszugleichen, meinte ich, dass mir ihre Pension von der Kellnerin aus dem Albatros empfohlen worden sei, die an den Wochenenden bei ihr arbeite.
»Dann geht es schon in Ordnung, geben Sie nur Ihren Namen an. Wenn Sie von Vanessa kommen, ist das als Referenz ausreichend für mich.«
Vanessa.
Damit waren also die Formalitäten erledigt und ich bekam einen Schlüssel. Frau Gerhard ließ es sich nicht nehmen und führte ihren neuen Gast persönlich in das Zimmer, durch dessen Fenster man genau auf das Lessing-Denkmal sah. Zu dem Raum gehörte ein kleines Badezimmer. Super, endlich der ersehnte Übernachtungskomfort! Ihr wisst doch noch, wie ich sonst immer untergebracht war. Hier stand sogar ein kleiner, grüner Fernseher auf einer Kommode. Kennt ihr die Fernseher noch, die nur einen Drehknopf für die drei Programme hatten? Nach der Inspektion des Zimmers schaltete ich das Gerät kurz ein. Das rauschende Schneebild aus schwarzen und weißen Punkten wich nach kurzer Zeit einer farblosen Nachrichtensprecherin, die ich nach einer weiteren Minute auch zu hören bekam:
»Hamburg! Wie uns gerade mitgeteilt wurde, gab es letzte Nacht an der U-Bahn-Station Gänsemarkt ein weiteres Mordopfer. Ein junger Mann, dessen genaues Alter noch unbekannt ist, wurde in den Morgenstunden bei Schneeräumarbeiten gefunden. Dieser ist das dritte Opfer in den vergangenen drei Wochen. Die Polizei hat in einer kurzen Pressekonferenz angedeutet, dass es sich bei dem Mörder mit hoher Wahrscheinlichkeit um einen Serientäter handelt … In den USA kann Präsident Reagan seine einjährige Amtszeit feiern. Rückblickend auf das erste Jahr, meinen einige …«
Jetzt schneite es nicht nur draußen, sondern auch wieder auf dem Bildschirm. Da half kein an der Antenne rütteln und kein Klopfen auf das Gerät. Ich stellte es ab und öffnete den Koffer. Um mir einen Überblick über meine Habseligkeiten zu verschaffen, breitete ich den Inhalt auf dem Bett aus. Zwei Jeanshosen, Unterwäsche, Pullover, Hemden. Keine Pflegemittel. Wo ich hier doch so ein tolles Badezimmer habe. Aber einen aufklappbaren Reisewecker gab es als Bonus. Ich räumte die Sachen in den Schrank. Bekommt eigentlich jeder, der in die Geschichten reist, seine Kleidergröße? Wie geht das?
Dann nahm ich das Hamburger Abendblatt und setzte mich an den Tisch. Aufmerksam studierte ich den Schlächterartikel und erfuhr mehr Details als von der Schwarz-Weiß-Tante aus dem Röhrenapparat. Das Schwarzgedruckte verkündete, dass die beiden jungen Männer, die in den vergangenen Wochen getötet wurden, erst Anfang zwanzig gewesen waren und dass seit Ende letzten Jahres von drei Männern im gleichen Alter jede Spur fehle. Dazwischen wurde ein Zusammenhang vermutet. Der Autor des Artikels nannte auch den Namen des Mannes, der die Ermittlungen leitete: Hauptkommissar Wallace. Danach erging sich der reißerische Text in Spekulationen: Vieles würde darauf hindeuten, dass hinter dem Ganzen eine satanische Gemeinschaft stecke, die den Wolf verehre und sicherlich auch für den Wolfsdiebstahl aus dem Hamburger Tierpark verantwortlich sei, der sich kurz vor dem ersten Mord ereignet hatte. Der Marktschreierartikel endete mit: Bis jetzt waren die Opfer nur Männer Anfang zwanzig. Trotzdem sollte sich keiner in diesen Zeiten zu sicher fühlen … Denn wer weiß, vielleicht könnte es bald jeden jederzeit treffen!
***
Gegen Mittag verließ ich meine neue Bleibe, um mich, wenn möglich, etwas genauer am Tatort umzusehen. Doch da gab es nichts zu entdecken, alles war weggeräumt. Keiner der Passanten blieb mehr stehen, um sich umzuschauen. Der einzig Neugierige war ich, dessen Neugierde am Ende doch noch belohnt wurde. Denn etwas abseits des Leichenfundorts entdeckte ich ein Amulett, genauer gesagt ein Pentagramm, das an einem Lederband hing. Das silberne Ding hatte einen Durchmesser von ungefähr vier Zentimetern. Wie konnte die Polizei das nur übersehen? Ob es mit den Morden zusammenhängt oder hat es einer der Schaulustigen verloren?
Zum ersten Mal in all meinen Abenteuern war mir meine Aufgabe sehr schnell klar: Diese Geschichte drehte sich um die Morde, kein Zweifel. Hier in Hamburg war es nicht so wie in der Karibik, wo ich erst einige Seemeilen überwinden musste, um zu erfahren, worum es in Die Festung eigentlich ging.
Dafür hatte ich große Schwierigkeiten mir zu vergegenwärtigen, dass ich mich wirklich in einem meiner Abenteuer befand. An diesem Ort war mir einfach alles so viel vertrauter als in den anderen Geschichten des Torbuches, die ich bereits durchlebt hatte. Auch wenn ich Hamburg in Wirklichkeit zum ersten Mal 1991 mit meinen Eltern besucht hatte, um das Phantom der Oper in der Neuen Flora zu sehen. Danach waren wir zwei- bis dreimal pro Jahr in der Stadt. Entweder in einem Musical oder im Ohnsorg-Theater, und auch den Gänsemarkt hatte ich in dieser Zeit kennengelernt.
Meine Eltern … in den letzten zwei Jahren musste ich immer seltener an sie denken. Sie wären sicher stolz auf mich, wenn sie wüssten, dass ich Willis Laden übernommen habe. Und meine innige familiäre Beziehung zu Willi und Doris würde sie bestimmt beruhigen. Sie hatten die beiden schließlich auch sehr gemocht. Was würden meine Eltern wohl zu den Torbuch-Erlebnissen sagen? Mutter wäre vermutlich ganz ängstlich und Vater hätte mir das Buch mit Sicherheit weggenommen − nur um dann selbst darin zu verschwinden. Vielleicht wären wir gemeinsam in das Buch gereist. War das eigentlich möglich? Was würde passieren, wenn zwei Menschen ihre Hände gleichzeitig auf einen Titel im Torbuch legten?
Jedenfalls