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Nick Francis 4


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gefallen lassen. Ein Schaulustiger entriss mir sogar meinen Koffer und schnauzte mich an:

      »He du, was fällt dir ein, glaubst du, ich will nicht auch mehr sehen? Stell dich gefälligst hinten an!«

      Doch ihr kennt mich jetzt schon ein wenig länger und könnt euch denken, dass ich mich von solchen Lappalien nicht aufhalten lasse. Ich zog an meinem Koffer und erwiderte:

      »Lassen Sie gefälligst los, ich bin Arzt.« Der Typ ließ tatsächlich von mir und dem Koffer ab, und ich drängelte mich dichter an das Geschehen heran. Am U-Bahn-Eingang waren Polizisten damit beschäftigt, die Neugierigen davon abzuhalten, die Absperrung durch die Drängelei zu durchbrechen. Gerade als ich mir einen Platz in der ersten Reihe erobert hatte, meinte ein Polizist:

      »Seien Sie doch vernünftig, treten Sie zurück … Herrschaften … Bitte! … Hier gibt es nichts zu sehen!«

      Also benahm ich mich wie jeder vernünftige Mensch in so einer Situation. Ich schenkte dem Polizisten keine Beachtung und reckte meinen Hals umso höher. Meine weit aufgerissenen Augen erspähten einen regungslosen nackten Oberkörper, der aus einem Schneeberg herausragte. Er schien mit einer rot glänzenden Schicht überzogen. Gefrorenes Blut? Roter Schnee umzeichnete den Oberkörper zusätzlich. Polizisten schaufelten den toten Mann aus dem Schnee heraus. Von hinten drängelten sich zwei Männer an mir vorbei und setzten gerade an, mit ihren gezogenen Fotoapparaten über die Absperrung zu klettern, als der Polizist sie anblaffte:

      »Sind Sie denn ganz und gar verrückt?! Auch Sie bleiben gefälligst zurück – und keine Fotos!«, befahl er und drückte die Kameras runter.

      Die Männer, die ich durch ihre an den Mänteln befestigten Presseausweise als Journalisten identifizierte, protestierten lautstark, wobei der eine, ein dauergewellter blonder Schönling mit Schnauzbart, besonders heftig debattierte. Leider konnte ich bei dem Getümmel um mich herum nicht verstehen, was er sagte. Ich hörte dafür noch den Beamten so etwas antworten wie: »Warten Sie auf die Pressekonferenz, da werden Sie alles erfahren«, bevor sich zwei hoch interessierte ältere Frauen zwischen uns quetschten. Gibt es hier was umsonst?

      »Es soll ein junger Mann sein, der hier unter dem Schnee gefunden wurde«, begann die eine zu tuscheln.

      »Ja, völlig zerfleischt soll er gewesen sein«, tuschelte die andere zurück. »Und nackt!«

      »Oh! Wie schrecklich.« Sie hielt sich die Hand vor dem Mund.

      »Das ist jetzt schon der Dritte, und alle noch so jung.«

      »Und so etwas hier bei uns. Wie furchtbar. Man traut sich ja nachts kaum noch auf die Straße.«

      Dann ließen sich die Frauen über die Arbeit der Polizei aus. Die hätte das verhindern müssen, doch stattdessen wäre sie nur damit beschäftigt, Falschparker abzuschleppen und so weiter.

      In diesen ganzen Bruchstücken, die ich inzwischen erhascht hatte, steckten ein paar interessante Informationen. Ich wusste jetzt, dass der junge Mann nicht das erste Opfer war. Die Leichen waren mit Blut bedeckt und der Täter hatte bisher nur nachts zugeschlagen. Nachts, viel Blut? Habe ich es wieder mit einem Vampir zu tun? Nee, ein Vampir kann es nicht sein, der würde doch niemals so viel Blut übrig lassen. Es sei denn, er wäre auf Diät. Nick, du spinnst mal wieder.

      Dann fiel mir ein großer, schlanker Mann mit grauem Wintermantel und einem schwarzen Hut auf, der in der Nähe der Leiche stand. Er diskutierte mit zwei Männern, vielleicht Kollegen, die wie er in Zivil unterwegs waren. Irgendwie erinnerte er mich an jemanden. Das Aussehen, die Körperhaltung, das wilde Gestikulieren. Mit einer ausgesuchten Höflichkeit fragte ich den Polizisten, der hinter der Absperrung stand und immer noch versuchte, uns von einem weiteren Vordringen abzuhalten:

      »Entschuldigen Sie, wer ist der große Mann da hinten − der mit dem grauen Mantel?«

      Ich konnte es gar nicht recht glauben, aber ich bekam tatsächlich eine, wenn auch knappe Antwort:

      »Hauptkommissar Wallace. Und nun verschwinden Sie, bevor ich Sie einsperren lasse wegen Behinderung eines Polizeieinsatzes.«

      »Schon gut, ich bin bereits weg«, antwortete ich und schob mich durch die Menge nach hinten. Hauptkommissar Wallace? An wen erinnert er mich nur? Fällt mir sicher wieder ein.

      ***

      Ich entfernte mich immer weiter weg vom Schauplatz, und nach einigen Metern stand ich vor einem Denkmal. Ich schaute es mir an und las die Hinweistafel. Ach ja, das Lessing-Denkmal. Jetzt weiß ich es wieder. – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. – War das nicht von ihm?

      In diesem Augenblick registrierte ich zum ersten Mal bewusst, wo ich mich eigentlich befand. Es kam mir gar nicht wie eine Welt aus dem Buch vor. Alles um mich herum war deutlich vertrauter als in den anderen Geschichten. Aber warum sollte es nicht so sein? Wenn ich in das Jahr 1694 reisen konnte, wieso nicht auch in das Jahr 1982, genauso hätte ich wohl auch im Jahre 2129 oder so landen können. Ich hatte zu sehr damit gerechnet, in eine weit entfernte Vergangenheit zu reisen. Ihr sicher auch – oder?

      So stand ich einige Minuten grübelnd vor dem Denkmal, bis ein kalter Windstoß, der kleine Schneeflocken mit sich trug, in meine Jacke fuhr. Ich schaute mich um und erblickte ein großes Schild über einem einladenden Eingang. Albatros. Dem Schild zufolge ein Bistro mit integrierter Bar. Ich überquerte die Straße und betrat die rustikal gestaltete Gaststätte. An den Wänden hingen Bilder von James Dean, Humphrey Bogart, Elvis Presley, dem jungen Marlon Brando in Lederklamotten und von Marilyn Monroe. Eine Studentenkneipe der Achtziger. Das Albatros hatte anscheinend durchgehend geöffnet, denn so wie es aussah trafen hier die letzten Nachtschwärmer auf die ersten Frühaufsteher.

      Ich gönnte mir eine Frühstückspause. Nachdem ich bestellt hatte, fiel mir ein, dass ich, wenn ich hier nicht abwaschen wollte, Geld benötigte. Ich durchsuchte die Jacke, die ich bereits über die Rückenlehne des Stuhls gehängt hatte, und fand in der Innentasche eine Geldbörse mit einigen großen und kleinen Scheinen unserer guten alten Deutschen Mark. Die Scheine kamen mir vertraut und gleichzeitig sehr fremd vor; es waren noch die alten Scheine, nicht die, die wir vor der Euroumstellung hatten, einige von euch werden sie sicher noch kennen. Und nun ratet mal, wie viel Geld es war. Sage und schreibe fünftausend Mark! Also genügend Knete, um den Kaffee und die beiden halben belegten Brötchen zu bezahlen und sich auch noch ein Zimmer für ein paar Tage zu mieten. So fragte ich die Kellnerin, als sie mir den Kaffee und die Brötchen brachte:

      »Entschuldigen Sie, könnten Sie mir hier in der Nähe eine günstige Bleibe empfehlen?«

      Sie schaute mich an und lächelte so, als wollte sie sagen: »Bei mir.« In Wirklichkeit aber sagte sie:

      »In der Pension Gerhard hier am Gänsemarkt. Die ist sehr nett und vor allem sauber. Ich arbeite da oft am Wochenende zur Frühstückszeit.«

      »Da auch! Dann sind Sie ja eine viel beschäftigte Frau.« Ich lächelte der Schönheit, deren Alter ich auf Anfang zwanzig schätzte, zu.

      »Ich kann nicht klagen, aber ab und an ist es schon stressig, denn hauptsächlich studiere ich. Mit den beiden Arbeitsstellen finanziere ich mir das Studium. Tanzen gehen am Wochenende kommt da manchmal etwas kurz«, lächelte sie.

      Ich nutzte die Gelegenheit und fragte:

      »Wochenende? Ich bin ganz durcheinander, weil ich einige Tage unterwegs war, können Sie mir vielleicht verraten, welchen Tag wir heute haben?«

      »Heute? – Montag!«

      »Richtig, Montag der …«, ich sah sie nachdenklich an. Sie hatte rehbraune Augen, die tief in einem dunkelhäutigen Gesicht lagen.

      »Montag, der elfte Januar.«

      »Schon der elfte Januar?! Es kommt mir vor, als hätte das neue Jahr erst gestern begonnen. Ich habe jedenfalls fröhlich reingefeiert … Sie auch?«

      »Klar! Hier war eine Riesenparty. Wir haben das Jahr neunzehnhundertzweiundachtzig gebührend empfangen.«

      »Ja,