Norbert Wibben

Raban und Röiven Insel der Elfen


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Der damalige König der Darkwings übernahm die Festung des Königs der Fairwings, der ein Vorfahr Kenneths war. In dieser Anlage befindet sich die zweite Bibliothek des Landes. Kenneth hat darauf verzichtet, als Führer der Fairwings aufzutreten. Er vermisst die damit verbundene Macht nicht. Aber er will die Verantwortung für sein Volk trotzdem übernehmen und ihnen dienen, soweit er das mit seinen Kräften vermag. Deshalb zieht er bereits seit Jahren durch das Land, genauer gesagt, über die Insel und unterstützt die Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme. Dass er zaubern kann, hat er bisher immer geschickt vor anderen verborgen, bis es zur Auseinandersetzung mit Duncan kam. Doch das hat eigentlich nur Kendra so richtig mitbekommen, und sie wird es nicht absichtlich verraten.

      Kenneth vermisst allerdings die Bibliothek in der Festungsanlage seiner Vorfahren, denn Bücher liebt er über alles. Dann und wann erlaubte der jetzt tote König auserwählten Darkwings und manchmal sogar ihm, die Bücher zu betrachten und einige Stunden darin zu lesen, doch das ist nichts im Vergleich zu langen Abenden bei knisterndem Kaminfeuer in dem eigenen Büchersaal.

      Einige Privatpersonen, meist gehören sie der Oberschicht der Darkwings an, besitzen auch Bücher. Das sind dann jedoch weniger als 100 Exemplare, so dass in diesen Fällen von keiner Bibliothek zu sprechen ist. Kenneth besitzt ein armselig erscheinendes Haus in der näheren Umgebung der ehemaligen Familienburg, das von einer Schwester der Wirtin Amelia während seiner oft langen Abwesenheit in Ordnung gehalten wird. Sobald man allerdings in das Haus tritt, staunt man über die Vielzahl der Bücher, die in unzähligen Regalen in Fluren und Zimmern stehen, doch das erfährt außerhalb des Hauses niemand. Der Fairwing liebt es, sich dort hin und wieder eine Auszeit von seinen anstrengenden Reisen zu gönnen.

      Kenneth ist nicht nur das rechtmäßige Oberhaupt der Fairwings, sondern gleichzeitig auch ein Nachkomme der Elfen des Westens. In seinen Adern fließt sogar in direkter Linie das Blut von deren letztem Anführer. Deshalb benötigt er die Bücher nicht, um sein Wissen über Zaubersprüche aufzufrischen. Wie Sorcha verfügt er unauslöschlich über alle Erkenntnisse und Geschehen seines Elfenvolkes.

      Einige der bei Duncan gefundenen Bücher werden heimlich beiseitegeschafft. Zusammen mit besonderen Kostbarkeiten, darunter befinden sich seltsam erscheinende Artefakte, werden die Zauberbücher noch spätabends einem an derartigen Dingen interessierten Mann angeboten. Der königliche Jäger und dieser Mann, der einen dunklen Umhang mit über den Kopf gezogener Kapuze trägt, treffen sich in einer verwinkelten Gasse außerhalb der Burganlage in der Residenzstadt. Das Kopfsteinpflaster ist nass und rutschig, da es bis vor ein paar Minuten noch heftig geregnet hat. Einige Wasserbäche rauschen seitlich die Gosse entlang, während noch ein feiner Nieselregen in der Luft verbleibt.

      »Sauwetter! Ich bin völlig durchnässt. Warum müssen wir uns hier treffen?«

      »Mich interessiert dein Befinden nicht«, zischt eine leise Stimme zurück. »Wir stehen hier, weil ich es so will! Andere brauchen von unserem Handel nichts zu wissen. Jetzt jammere nicht und zeig her, was du mitgebracht hast!« Die Stimme kling herrisch, an autoritäres Auftreten gewöhnt, obwohl der Dunkle nur flüstert. Dem Jäger zieht, nicht nur wegen der Nässe und Kälte, eine Gänsehaut über den Rücken. Er hat schon einige Geschäfte dieser Art mit dem Vermummten getätigt, ohne auch nur zu ahnen, wer er ist. Trotzdem hat der Mann etwas Drohendes an sich. Irgendetwas an ihm verheißt den Tod, spürt der Jäger. Also nimmt er schnell die Plane von dem Handkarren, auf dem er die Dinge hertransportiert hat. Der Dunkle lässt seine Blendlaterne kurz aufleuchten.

      »Ah, Bücher! Die sehen aber schon sehr alt aus, da wird in ihnen wohl kaum etwas heute noch Interessantes stehen. – Und was ist in dem kleinen Säckchen? Los, öffne es!« Der Jäger versucht, mit zittrigen Fingern die Kordel zu lösen, während er lauernd entgegnet:

      »In den Büchern stehen Zaubersprüche, wie sie angewandt werden und was sie bewirken. Das kann unter Umständen hilfreich sein. Duncan hat daraus wohl einiges gelernt.« Jetzt hat er die Verschnürung gelöst und öffnet das Säckchen. Die Laterne leuchtet kurz hinein.

      »Pah, das sind ja nur Schmuckstücke! Mehr war nicht zu finden?«

      »Ich habe auch noch eine Kladde mitgebracht, in der Duncan offenbar aufgezeichnet hat, was er so gemacht hat. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Tagebuch.«

      »Ein Tagebuch? – Hm. Darin wird er doch nicht festgehalten haben, in wen er verliebt ist oder so?«

      »Ähem. Nein. Er schreibt über die von ihm und seinen Kumpanen verübten Überfälle. Auf den letzten Seiten berichtet er etwas von Steinkreisen und wie er versucht, hierher zurückzukommen.«

      »Na, ich weiß nicht. Wo soll er schon gewesen sein?«

      »Verzeihung. Ich muss so langsam wieder zurück ins Quartier. Offiziell bringe ich die beschlagnahmten Gegenstände in diesem Moment ins Lager, damit sie morgen dort besichtigt und in Listen eingetragen werden können. – Was bekomme ich nun für die Dinge, oder soll ich sie wieder mitnehmen?«

      Der Jäger klingt ungeduldig. Warum zögert der Dunkle überhaupt?

      »Ich möchte noch einen Blick auf die Bücher werfen.« Er beugt sich vor. In dem Moment, als die Blendlaterne aufleuchtet, fegt ein Windstoß durch die enge Gasse, der die Kapuze des Vermummten herunter fegt. Jetzt geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Die Augen des Jägers weiten sich in plötzlichem Erkennen, mit wem er es zu tun hat, um gleich darauf zu brechen. Der Dunkle musste sein Messer, das er jetzt seelenruhig am Gewand des Jägers abwischt, unter dem Umhang verborgen in einer Hand gehalten haben. Mit einem letzten Hauch sinkt der andere Mann zu Boden. Das Messer verschwindet so schnell, wie es erschienen ist unter dem Umhang. Die Kapuze wird über den Kopf gezogen. Danach murmelt der Mörder, während er die Kleidung des Toten durchsucht:

      »Wo ist denn jetzt die Kladde. Die muss ich unbedingt mitnehmen. Ah, da habe ich sie schon.« Er richtet sich auf.

      »Eigentlich ist es schade um diesen Jäger. Er hat mich über Jahre mit Dingen versorgt, die nirgends zu kaufen sind. Da er mich aber erkannt hat, musste ich mich schützen. Einen neuen Hehler werde ich sicher einfacher finden können, als mich vor Erpressungen oder Schlimmerem zu bewahren.« Er schnappt sich das Säckchen und die alten Bücher. Dann flirrt die Luft.

      Am nächsten Morgen sorgen der Leichnam und der leere Handkarren für einige Verwunderung unter den Jägern.

      Raban wird von einem Sonnenstrahl geweckt, der ihn in der Nase kitzelt. Der Junge lächelt und öffnet die Augen. Enttäuscht stellt er fest, dass es nicht Ilea ist, die ihm mit einem Grashalm spielerisch durchs Gesicht fährt, sondern die Sonne. Dabei hat er soeben noch von dem Mädchen geträumt, das sich gestern Abend mit einem erneuten Kuss, diesmal nur kurz auf seine Lippen gehaucht, von ihm verabschiedete. Er schließt die Augen, doch der süße Traum ist weg. Da die Vorhänge im Wohnzimmer nicht zugezogen sind, kann er den schönen Sommertag erahnen, der sich mit einem blauen, wolkenlosen Himmel ankündigt. Leise seufzend erhebt er sich von dem Sofa und bereitet das Frühstück in der Küche. Er ist gerade damit fertig, als seine Eltern und anschließend auch sein Opa, erscheinen. Gemeinsam lassen sie sich die leckeren Speisen schmecken. Nach einem kurzen Blick in die Zeitung verabschiedet sich sein Dad. Der Junge überfliegt die Schlagzeilen, während sich sein Großvater mehr Zeit dafür nimmt. Als er keine außergewöhnlichen Vorkommnisse entdecken kann, atmet Raban unbewusst auf. Insgeheim hatte er befürchtet, einen Hinweis auf eine neue Bedrohung zu finden. Dass er beim Lesen der Zeitung immer wieder so ein mulmiges Gefühl bekommt, hängt wohl mit den Ereignissen der letzten zwei Jahre zusammen. Doch die Dubharan oder andere Zauberer scheinen tatsächlich nicht mehr zu existieren.

      »Die letzte Auseinandersetzung mit einem feindlichen Magier war im Herbst. Das ist schon fast ein dreiviertel Jahr her«, überlegt der Junge. »Obwohl das jedes Mal eine aufregende Zeit war, in der Röiven und ich Gefahren bestehen mussten, fehlt mir ein zu lösendes Rätsel ein bisschen. – Hm. Röiven könnte eine neue Aufgabe auch gebrauchen, wenn ich Zoe richtig verstanden