Norbert Wibben

Raban und Röiven Insel der Elfen


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Volkes überreden konnte, Asyl im geheimen Wald zu nehmen.

      Die Sommersonne scheint wärmend auf die beiden Jugendlichen, die es sich auf einem großen Steinblock für ein Picknick gemütlich machen. Während Raban die mitgebrachten Leckereien auspackt, staunt Ilea über den sich ihr bietenden Ausblick. Die schroffen Berge weichen weit auseinander. Auf der einen Seite, auf der sich die beiden befinden, leuchten die schneebedeckten Gipfel über ihnen hell im Sonnenlicht, auf der gegenüberliegenden Seite wirken sie im Schatten leicht bläulich bis grau. Das Tal ist mit saftigem Gras bewachsen. Dort gibt es Einfassungen aus aufeinandergeschichteten Steinen, wie das hier im Norden oft üblich ist. Sie pferchen Schafherden ein, die darin langsam weidend umherziehen. Auch wenige aber mächtige Bäume stehen verstreut auf der Fläche. In der Mitte der Weite erkennt Ilea einige Häuser, die zueinander gruppiert sind.

      »Hier ist ein heißer Kakao für dich«, unterbricht Raban die Betrachtung und reicht ihr eine dampfende Steinguttasse.

      »Woher … Ich habe jetzt glatt vergessen, dass du jederzeit so ein Heißgetränk herbeizaubern kannst. – Moment mal. Wieso schleppst du dich mit dem Rucksack und den Dingen ab, die deine Mom dir darin mitgibt, wenn du sie einfacher mit einem Zauber … Das versteh ich wirklich nicht.«

      »Ähem. Das ist schnell erklärt. Ich will meiner Mom eine Freude machen. Sie kocht und backt so gut, als wenn sie die Leckereien zaubern würde, und packt sie dann für mich ein. Außerdem hat sie sich noch nicht so ganz daran gewöhnt, dass ich ein Zauberer bin.«

      »Das ist lieb von dir!«, strahlt ihn das Mädchen an.

      Verlegen versucht Raban, das Thema zu wechseln, indem er von dem Ort berichtet, den sie als nächsten aufsuchen werden.

      »Röiven hatte von dem Führer der Raben erfahren, dass der nächste Clanführer nicht so einfach zu überzeugen sein würde. Er wäre sehr stolz und ließe sich nicht aus dem Revier seiner Familie vertreiben, auch wenn das freiwillig geschehen und nur ein kurzzeitiges Asyl in der Fremde bedeuten sollte.«

      »Wie ich euch kenne, habt ihr das aber trotzdem versucht, oder?«

      »Aber klaro!«, ahmt der Junge den Raben nach. Da sie mit dem Picknick fertig sind, flirrt die Luft.

      Raban steht nun mit Ilea in der Nähe eines Flusses, wo sie oberhalb eines Hangs eine gewaltige Burganlage erblicken.

      Ilea schaut staunend mit weit geöffneten Augen umher. Bäume stehen vereinzelt, in Gruppen oder in kleinen Wäldern zusammen. Schroffe Berge gibt es hier nicht, sie sind sanft gewellt und die Hänge mit saftigem Gras überzogen, auf dem in der Mehrzahl Schafe, aber auch vereinzelt Kühe stehen. Ilea schmeckt Spuren salziger Meeresluft. Ihren fragenden Blick richtig deutend, antwortet der Junge:

      »Das Meer ist nicht weit, der Fluss wird es schon bald erreichen.« Schreie von Möwen lenken die Aufmerksamkeit der beiden auf sich, die auf Nahrungssuche dem Wasserlauf hinauf folgen.

      »Schau dir diese beeindruckende Burg an«, fordert Raban sich umdrehend und zur Festung deutend.

      »Ist die aber gewaltig!«

      »Leider hatte Röiven hier keinen Erfolg. – Wenn du möchtest, können wir uns die Anlage ansehen. Sollen wir?« Begeistert nickt Ilea und folgt Raban den Hang hinauf.

      »Dort stand im Sommer vorigen Jahres ein Zelt.« Der Junge deutet nach kurzer Zeit auf die entsprechende Stelle. »Über 30 tote Kolkraben lagen darin, die von Morgana und Gavin getötet worden waren. Zum Glück befanden sich Zoe und Ainoa nicht darunter. Und hier hatte ich auch eine kurze Auseinandersetzung mit diesen Dubharan, doch ich konnte sie nicht überwältigen, also entkamen sie.«

      Die Sonne wärmt den Jungen und vertreibt die dunklen Gedanken, die sich in seinen Kopf schleichen wollen.

      Da sie mit ausgreifenden Schritten am Mauerfuß der Anlage in Richtung des Dorfs weiterwandern, ist die bezeichnete Stelle ihren Blicken schnell entschwunden. Es dauert einige Zeit, in der die Sonne sie beträchtlich ins Schwitzen bringt, bis sie im kühlen Schatten des Torhauses verschnaufen können. Bei einem älteren Mann mit grauem Haar lösen sie die Eintrittskarten.

      Obwohl sich in der berühmten Anlage viele Touristen drängen, stört das die beiden nicht. Auch das Gewusel und das Lärmen kleinerer Kinder plätschern an ihnen unbemerkt vorbei. Der Junge und das Mädchen versinken in die Welt des Mittelalters, während sie die Anlage bestaunen und die vielen Informationstafeln lesen. Die Festungsanlage ist aber so riesig, dass der komplette Nachmittag vergeht, ohne dass sie auch nur die Hälfte von allem gesehen haben. Erschöpft ruhen sie ihre müden Füße im Schatten einer alten Ulme aus. Raban kauft Ilea und sich Eis in Waffeln, das sie nun genießen.

      Beeindruckt von der Anlage berichtet der Junge dabei von dem kurzen Besuch auf der Insel der Elfen, wo ihn die Häuser und auch die Lebensweise der Menschen an die in diesem Land längst vergangene Epoche des Mittelalters erinnerte. Als der Ton erklingt, mit dem die Besucher auf das Schließen der Anlage hingewiesen werden, schrecken beide hoch. Hastig verlassen sie die Festung und wandern den sanften Abhang zum Fluss hinab. Dort setzen sie sich in das warme Gras und vertilgen die Reste des Picknicks, die noch im Rucksack zu finden sind.

      »Danke für den schönen Tag!« Ilea strahlt den Raban an, dessen Herz plötzlich heftig zu klopfen beginnt. Was ist los? Lauert hier eine Gefahr? Der Junge ist verwirrt. Sollte doch ein feindlicher Zauberer … Weiter kommt er in seinen Überlegungen nicht. Er hat nicht bemerkt, dass Ilea näher an ihn herangerückt ist. Jetzt umarmt und küsst sie ihn.

      Als sie ihn loslässt, glüht ihr Gesicht ebenso wie seines. Raban ist überwältigt. Wow! Das fühlt sich gut an! Als er den Kuss erwidern möchte, rückt sie etwas von ihm ab.

      »Ich danke dir auch, für deine Begleitung u… und für diesen süßen Schluss«, stottert er. Ilea strahlt ihn glücklich an. Sie freut sich, dass er nicht versucht, seine körperliche und zauberische Überlegenheit auszunutzen, um einen weiteren Kuss von ihr zu fordern. Obwohl er etwas enttäuscht ist, weiß Raban, dass er das genießen soll, was sie ihm freiwillig gewährt.

      »Wenn es dir recht ist, sollten wir das bald wiederholen.« Der Junge strahlt sie an. Sofort blitzt ein Schalk in ihren Augen auf.

      »Meinst du den Ausflug oder den Schluss?« Sie grinst ihn etwas verschämt an.

      »Beides!«, erwidert Raban mit fester Stimme und blickt ebenso verlegen zurück. Sie strahlen jetzt übers ganze Gesicht und erheben sich.

      »Nach Hause?«, fragt Raban.

      »Jo, jepp, klaro!«, antwortet Ilea, die bereits seinen Arm umfasst.

      Ebenfalls im vergangenen Herbst.

      Die königlichen Jäger suchen in Duncans Haus nach Hinweisen, sowohl auf seine verübten Untaten, als auch auf möglicherweise noch unerkannte Verbündete. Offensichtliches Diebesgut wird konfisziert. Ein Großteil der Beute der Raubzüge wurde aber von Duncan verkauft, womit er seinen Luxus finanzierte. Den größten Teil des dadurch erhaltenen Geldes hat er unauffindbar in einem Versteck deponiert, mit dem er eine Privatarmee aufstellen wollte. Er beabsichtigte, den bisherigen König zu stürzen, um dann selbst die Krone zu besitzen. Während des Aufenthalts im Land seiner Urahnen, wohin er ungewollt durch einen missglückten Portaro-Zauber gelangte, lernte er mächtige Zaubersprüche kennen. Diese sind in den alten Büchern aufgezeichnet, die er in der Bibliothek Sörens fand, die zuletzt dessen Urenkelin Morgana gehörten. Als ihm endlich die Rückkehr auf die Insel der Elfen gelang, nutzte er seine neuen Kenntnisse, um den König zu stürzen. Die ihm wichtigsten Bücher hatte er hierher mitgenommen, die nun bei der Durchsuchung seiner Habe entdeckt werden. Größere Bestände an Büchern gibt es auf der Insel der Elfen offiziell nur im Besitz des regierenden Monarchen, daher werden sie allgemein als Kostbarkeit angesehen. Obwohl die alten Bücher eher unspektakulär aussehen, stehen sie verpackt zum Abtransport in die königliche Bibliothek bereit.