Großmama hat aber gesagt, da ist kein Vogel, und den Kopf kann sie auch nicht aufmachen.«
»Du bist ja viel zu dämlich. – Jetzt laß mich endlich in Ruhe.«
Da ging das Kind betrübt aus dem Zimmer des Bruders. Als aber Frau Lindberg nochmals hereinkam, um nachzusehen, ob Goldköpfchen schlief, als sie sich über das Bettchen neigte, schlang das Kind beide Arme um ihren Hals.
»Bärbel will nun wieder ganz artig sein, und der Joachim sagt, du hast doch ’nen Vogel. Aber du hast wohl keinen? – Nein?«
»Gute Nacht, Goldköpfchen, jetzt schlaf!«
»Und ich möcht’ noch so vieles wissen, Großmama!«
»Jetzt wird geschlafen, Kind!«
»Du hast ja das Fenster nicht aufgemacht, Großmama. Will der Schutzengel heute nicht zu mir?«
»Er wird sehr böse auf dich sein, Bärbel.«
»Kommt dann der Teufel?«
»Wenn du betest, kommt der Teufel nicht. Und wenn du die Großmama liebhast, bist du jetzt ganz still.«
»Ich werd’ gleich still sein, liebe Großmama, aber …«
Da verschwand Frau Lindberg aus dem Zimmer. Bärbel lag noch lange mit offenen Augen in ihrem Bettchen und schaute nach dem Fenster, ob der Schutzengel nicht doch draußen wartete. Wenn nur die Großmama nochmals käme, damit sie sie fragen konnte, ob ein ganz kleiner Schutzengel nicht auch durch das Ofenloch hereinkommen könne.
Beim angestrengten Nachdenken über dieses Problem schlief Goldköpfchen bald ein.
Bei der Großmama
Seit drei Tagen weilte Bärbel in Dresden bei der Großmama und Tante Agnes. Tante Agnes war die jüngere Schwester Frau Wagners und lebte mit Frau Lindberg zusammen. Man hatte in einem großen Mietshause eine Vierzimmerwohnung inne, ein älteres Mädchen besorgte den Haushalt.
Natürlich war hier dem Kinde alles neu. Was gab es nicht zu sehen! Die Straßen mit den vielen Menschen, die hohen Häuser, die elektrischen Bahnen, die Schaufenster mit den vielen Auslagen; alles das war für Goldköpfchen eine neue Welt.
Tante Agnes erklärte bereits am zweiten Tage, daß sie von den Fragen Bärbels vollkommen erschlagen sei. Es war ihr unmöglich, für alles eine Antwort zu finden, denn Bärbel ließ sich nicht so rasch mit allgemeinen Redensarten abspeisen.
Tante Agnes fürchtete sich geradezu, dem wißbegierigen kleinen Mädchen etwas Neues zu zeigen, und doch hatte man für heute nachmittag den Besuch des Zoologischen Gartens vorgesehen.
»Ich glaube, Mama, heute abend sind wir beide nur noch halbe Menschen«, sagte sie seufzend zu Frau Lindberg.
»Oooch!« Bärbel stand kerzengerade vor der Tante. »Warum bist denn du nur ein halber Mensch heute abend?«
»Weil du so viel fragst, Bärbel.«
»Wenn ich nu immer noch mehr frage, Tante, – was bist du denn dann?«
»Du mußt nicht gar so neugierig sein, Bärbel.«
»Welche Hälfte bist du dann heute abend?«
»Nur noch die untere.«
»Ooch – hast du heute abend keinen Kopf mehr?«
»Wenn du noch lange fragst, – nein.«
»Tante Agnes«, jubelte das Kind, »jetzt frage ich mal so lange, bis dein Kopf weg ist.«
»So – soll die Tante ohne Kopf herumlaufen?«
»Ich möcht’ doch so gern sehen, wenn du keinen Kopf hast.«
»Laß mich jetzt in Ruhe, Goldköpfchen, oder ich gehe nicht mit in den Zoologischen Garten.«
Die Großmutter nahm Bärbel jetzt an der Hand.
»Du kannst mit mir ins große Zimmer hinüberkommen, Kind, ich will die Gläser in den Schrank stellen. Wir wollen Tante Agnes allein lassen.«
Bärbel verzog das Gesicht. »Wenn sie nun aber keinen Kopf mehr hat, dann seh’ ich das nicht!«
»Komm nur, Tante Agnes behält den Kopf.«
Während Frau Lindberg im großen Zimmer die Gläser einräumte, betrachtete Bärbel wieder voller Interesse die Möbel und die Bilder an den Wänden.
»Wer ist der Onkel da oben?«
Bärbel wies auf das große Bild, das die Vertreibung aus dem Paradiese darstellte. Geduldig gab die Großmama die Erklärung. Und da Bärbel schon von Adam und Eva gehört hatte, nickte das Kind verständnisvoll mit dem Köpfchen.
»Der Adam hat einen bösen Vati gehabt, – wegen so einem kleinen Apfel muß er aus dem Hause ’raus.«
»Da siehst du, man soll nicht naschen!«
»Großmama, – warum hat er sich denn aber gleich photographieren lassen? Hat er sich nicht geschämt?«
»Freilich hat er sich geschämt.«
»Warum hat er sich denn dann photographieren lassen?«
»Das ist keine Photographie, Goldköpfchen, das Bild haben die Leute erst viel später gemalt.«
Um weitere Fragen abzuschneiden, fing Frau Lindberg vom Zoologischen Garten an zu erzählen, denn sie fürchtete, daß sie mit Adam und Eva nicht weiterkam. Sie sprach von Löwen, Affen und allen jenen anderen Tieren, die das Kind bisher nur von Bildern her kannte.
Voller Ungeduld wartete die Kleine auf den Nachmittag; immer wieder fragte das Kind, ob es nicht bald Zeit sei.
»Du mußt unterwegs aber recht artig sein, Goldköpfchen, und nicht immerfort plaudern. Wir fahren mit der Eisenbahn, und da sitzen noch viele andere Menschen mit uns im Abteil. Die haben es gar nicht gern, wenn ein kleines Mädchen immerfort plappert. – Ich glaube, du kannst überhaupt nicht schweigen, Bärbel.«
»Oooch, Großmama, ich kann sehr toll schweigen.«
»Dann tu es doch mal!«
Bärbel setzte sich, während Frau Lindberg im Zimmer Staub wischte, brav auf einen Sessel; aber schon nach einer Minute erklang wieder die Kinderstimme:
»Großmama?«
»Was willst du mein Kind?«
»Hörst du mich schweigen?«
»Ich freue mich, daß du auch einmal still sein kannst. Das war sehr nett von dir. Nun werden heute nachmittag die Tiere im Zoologischen Garten sehr artig sein; und die Affen darfst du auch füttern.«
Zum Mittagessen gab es wieder Bärbels Lieblingsgericht, und immer aufs neue verlangte das Kind nach einer Portion.
»Jetzt ist es genug, Bärbel, wenn du so viel ißt, wird das Bäuchlein immer dicker, und wenn es dann so dick ist«, die Großmutter machte eine entsprechende Handbewegung, »dann platzt der Bauch.«
»Der Bauch ist noch ganz dünn, Großmama.«
»Der wird aber mit einemmal dick und platzt.«
»Platzt er, wenn ich noch ’n ganz kleines Stückchen reinstecke?«
»Ja.«
»Ooch – Großmama, das möcht’ ich aber gern mal sehen!«
»Das ist aber nicht hübsch, Bärbel, wenn er platzt. Außerdem wirst du krank, mußt ins Bett, und wir können nicht in den Zoologischen Garten gehen.«
Dieser letzte Hinweis genügte, um Goldköpfchen vom Weiteressen abzuhalten.
Endlich war es so weit. Man ging zur Stadtbahn und bestieg den Zug. Das Abteil war ziemlich besetzt, und Agnes war daher gezwungen, Bärbel auf den Schoß zu nehmen. Aber Bärbel wollte zum Fenster hinausschauen und steckte den Kopf durch die heruntergelassene Scheibe.