vergessen. Die grüne Schülermütze wurde vom Kopf gerissen und den Brüdern mit einem lauten Jubelrufe zugeschleudert.
Sie war die erste, die aus dem Zuge sprang, sie riß die Mutter fast um. Es war eine stürmische Begrüßung, die nun folgte, durch jedes Wort klang der Jubel der Mädchenseele, wieder daheim zu sein.
»Gibt es in Dresden auch Verbrecherbanden, Bärbel?«
Bärbel hatte dafür zunächst noch keine Erwiderung, sie mußte erst ihrem Herzen Luft machen, und immer wieder klang es von ihren Lippen:
»Au fein, daß ich wieder zu Hause bin!«
Über alles hatte sie Freude; über die kahle Linde am Markt, über den alten Bretterzaun an der Ecke der Friedrichstraße, über das holprige Pflaster Dillstadts, sie begrüßte ein paar Hunde; und immer wieder jubelte sie: »Mutti, Mutti, Dillstadt ist doch die schönste Stadt der Welt!«
Der Apothekenbesitzer erwartete seine Tochter vor dem Hause. Als man um die Straßenecke bog, lief die junge Dame mit ausgebreiteten Armen die letzten fünfzehn Meter dem wartenden Vater entgegen.
»Vati – Vati …«
Herr Wagner schloß sein zurückgekehrtes Goldköpfchen zärtlich in die Arme und küßte das Kind auf die frischen, roten Lippen.
»Wie schön, mein Kleines, daß wir dich nun wiederhaben!«
»Sechzehn Tage bleibe ich hier. Ach, sechzehn herrliche Tage!«
Dann kamen auch Joachim und schließlich Harald Wendelin. Als er das zierliche junge Mädchen erblickte, wollte ihm doch im ersten Augenblick die vertrauliche Anrede nicht recht über die Lippen kommen. Bärbels große, blaue Augen schauten forschend auf den Studenten, der sich vor ihr verneigte.
»Willkommen, mein gnädiges Fräulein!«
Bärbel fühlte einen wohligen Schauer über den Körper rieseln. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie ein Mann »gnädiges Fräulein« genannt. Wie war es nur möglich, daß sie sich bisher aus Harald Wendelin gar nichts gemacht hatte? Er war doch eigentlich ein entzückender Mensch.
»Seien Sie mir auch willkommen«, sagte sie ein wenig geziert und reichte ihm drei Finger der rechten Hand.
»Das gibt es nicht, mein lieber Herr Wendelin«, warf Herr Wagner dazwischen. »Sie gehören in unser Haus, und unser Goldköpfchen ist für Sie das Bärbel, weiter nichts.«
Bärbel wandte den Kopf dem Vater zu, ein vorwurfsvoller Blick traf ihn.
»Ja, ja, man wächst heran«, sagte sie, »noch eine ganz kurze Zeit, dann muß man ans Heiraten denken. – Aus Kindern werden Leute.«
»Also dann – Bärbel, liebes Bärbel«, sagte Harald Wendelin warm.
»Hm.«
Eigentlich war doch der Harald Wendelin gar nicht so nett, wie das zuerst den Anschein gehabt hatte.
»Sie könnten mich vielleicht auch Barbara nennen. So nennen mich unsere Doktoren, und Doktor Hering legt immer einen ganz besonderen Ton in dieses Wort.«
»Ich finde Bärbel viel passender«, erwiderte der Student.
»Nun, wie Sie wollen«, erwiderte Bärbel, sich kurz abwendend.
Dann saß sie mit den Zwillingen in ihrem Zimmer und packte aus. Die beiden Knaben hockten um ihren Koffer herum und wollten durchaus wissen, ob sie auch von der Schwester beschenkt würden. Goldköpfchen nickte mit blitzenden Augen.
»Du kriegst was Feines, Kuno. – Mach’ mal die Augen zu, dann zeige ich es dem Martin.«
Kuno tat es, blinzelte aber neugierig nach dem verheißenen Geschenk.
Bärbel holte ein kleines Büchlein hervor. Es war ziemlich abgegriffen.
»Ich habe es alt gekauft«, flüsterte sie Martin zu, »denn neu kostet die Kriminalgeschichte zwanzig Pfennig. Ich habe es für zehn Pfennige von meinem Freunde Hans Herwig bekommen. – Fabelhaft interessant. Der Meisterdetektiv bringt siebzehn Verbrecher um.«
»Au – fein«, rief Kuno, »gib her, das lese ich gleich!«
Er hatte längst die Augen wieder geöffnet und griff nach dem Hefte. Goldköpfchen versteckte es rasch auf dem Rücken.
»Du weißt von nichts«, sagte sie kategorisch.
»Und was kriege ich?« fragte Martin.
»Noch was Feineres!«
Martin wurde in den Schrank gesperrt, dann zeigte Goldköpfchen dem anderen Zwilling einen Federstutz.
»Den hat mir Ediths Mutter geschenkt. Sie hat ihn früher mal auf dem Hut getragen. Der Martin kann ihn als Skalp gebrauchen.«
»Interessiert mich gar nicht«, meinte Kuno verächtlich, »gib mir lieber das Buch. – Wie heißt es denn?«
»Der rote Faden.«
Trotz allen Bittens war Goldköpfchen doch nicht zu bewegen, dem Bruder schon heute das Buch zu geben.
»Bärbel, ich schenke dir auch ganz was Feines, wenn du mir heute schon das Buch borgst. Zu schenken brauchst du es mir ja erst morgen.«
»Was gibst du mir?«
»’ne Spritze.«
»Was?«
»Komm mal mit!«
Vergessen war der im Schrank eingeschlossene Martin. Kuno zog die Schwester hinüber ins Knabenzimmer. Er holte seinen Mantel hervor und griff in die Tasche. Ein Paket Bindfaden, einige Blechstücke, einige Knöpfe, ein Taschenmesser, eine Garnrolle, Bilder aus Zigarettenschachteln und zwei leere Kästchen kamen daraus zum Vorschein.
»Also in der anderen Tasche«, sagte Kuno und stopfte seine Schätze schnell wieder hinein.
Dann hielt er das Corpus delicti in der Hand.
»Du – Bärbel, – das kleine Aas macht für ’nen Taler Spaß! Ich habe es vom Richard bekommen. Dessen Vater ist Zahnklempner. Wenn du Wasser hineinfüllst und die Spritze durchs Schlüsselloch steckst, ist das ein famoser Witz. Wir haben die Emma schon immerzu damit geärgert. Auch in der Schule gut zu gebrauchen.«
»Fein«, jauchzte Bärbel und dachte im ersten Augenblick an Harald Wendelin, dem sie mit dieser Spritze in frühester Morgenstunde eine kleine Dusche geben wollte.
»Ich werde dir zeigen, wie man es macht«, sagte Kuno wichtig.
Mit recht unschuldigen Gesichtern strichen die beiden im Korridor entlang. Kuno entfernte geräuschlos den Schlüssel aus dem Schlosse der Küchentür, die mit Wasser gefüllte Spritze wurde hineingeschoben, und nun warteten die beiden, bis Emma in der Schußlinie war.
S-s-s-st!
Von innen ein leiser Schrei, denn der feine Strahl war Emma mitten ins Gesicht gegangen. Und während sich Kuno trotz seines schnellen Laufens geräuschlos entfernte, vernahm man doch Bärbels Schritte, die dem Bruder eiligst folgte.
Die Küchentür wurde hastig geöffnet.
»Du bist es, Bärbel! – Na, von dir hätte ich auch was anderes erwartet! So ein Unsinn, und das will ’ne junge Dame sein!«
Lachend lief Bärbel davon. Ja, diese Spritze, das war eine Errungenschaft, die mußte sie haben. Damit konnte man auch in Dresden fabelhafte Erfolge erzielen.
Da Herr und Frau Wagner noch immer stark beschäftigt waren, blieb sich das junge Volk allein überlassen. Bärbel fiel es schwer aufs Herz, daß sie noch einige kleine Besorgungen zu machen hatte. Sie wollte daher die Abendstunde dazu benutzen, noch rasch einzukaufen. Von dem ihr gesandten Reisegeld war noch eine Mark übriggeblieben, die konnte für Weihnachtsgeschenke ausgegeben werden.
Im Flur hingen Mantel und Mütze; eiligst kleidete sie sich an und ging davon. Natürlich traf sie sogleich alte Bekannte. Dem Herrn Bürgermeister gegenüber gab sie sich als artige junge Dame, und als