wartete. – Endlich erhob man sich, Herr Wagner gab den Auftrag, das Essen abzuräumen.
»Der Junge bekommt heute nichts mehr. Jetzt wollen wir alle hinübergehen und das Konfekt für den Weihnachtsbaum an Faden binden und die Nüsse vergolden. Morgen früh dürft ihr dann den Baum anputzen.«
Groß und Klein war begeistert. Diese Weihnachtsvorbereitungen waren doch das Allerschönste.
So saß man nun wieder um den großen Tisch, nur Frau Wagner wurde jetzt von Minute zu Minute unruhiger. – Wo steckte der Martin? Sie ging ins Schlafzimmer der Kinder, der Knabe war nicht dort. Sie telephonierte bei Bekannten an, bei denen Martin häufig weilte; aber auch hier wußte niemand etwas von ihm.
Kurz vor zehn Uhr wurde alles zusammengepackt.
»Kuno geht nun zu Bett, und auch Bärbel wird müde sein.«
»Wenn doch der Martin nicht da ist?« Alle Gedanken Kunos waren auf das morgige Weihnachtsfest gerichtet, sonst hätte es ihm einfallen müssen, daß der arme Bruder in Bärbels Schrank eingeschlossen war.
Aber auch Bärbel erinnerte sich der flüchtigen Episode nicht. Sie ging hinauf in ihr Zimmer, kleidete sich aus und schlüpfte ins Bett.
Kaum hatte sie die Decke über die Ohren gezogen, als sie plötzlich ein Poltern und Hämmern vernahm.
Entsetzt sprang sie auf, lief ins Nebenzimmer, das Schlafzimmer der Eltern. Es war leer. Sie stürmte weiter.
»Kuno – Kuno!«
Schlaftrunken fuhr der Knabe auf.
»Kuno – Kuno, – eine Räuberhorde geht bei mir um!«
Für wenige Sekunden saßen die beiden Geschwister zitternd zusammen. Dann stürzte Kuno nach der Kommode, nahm daraus ein Stück Gummischlauch, holte sein Taschenmesser hervor und sagte feierlich:
»Nu los!«
Als man im Zimmer der Eltern wieder ankam, hörten die beiden plötzlich eine jammervoll klingende Stimme, erneutes Hämmern und Schreien. – Da blickten sich Bruder und Schwester in die Augen.
»Martin!«
»Im Schrank!«
Da saß nun der arme Junge. Eine ganze Weile hatte er gerufen und geklopft, schließlich war er ermüdet eingeschlafen und jetzt erst wieder erwacht.
Als Bärbel die Tür öffnete, hagelte es Püffe und Schläge.
»Dumme Trine, – dämlicher Idiot!«
Über Martins Gesicht strömten die Tränen, trotzdem ging er mit geballten Fäusten auf Kuno los. Es gab eine regelrechte Schlägerei. Beide Knaben wälzten sich am Boden, Stühle wurden gerückt, bis schließlich Frau Wagner, die von dem Lärm herbeigerufen wurde, von unten heraufgeeilt kam und das Knäuel am Boden sah.
Es war ein sonderbarer Anblick. Kuno im Nachthemd, Bärbel danebenstehend, bald den einen, bald den anderen der Brüder mit Wasser bespritzend, dazu der zerraufte und verschlafene Martin.
Frau Wagner, die überglücklich war, ihren Jüngsten endlich wiederzuhaben, hatte zwar ernste Vorwürfe für Bärbel und Kuno, aber sie fühlte sich doch grenzenlos erleichtert, denn sie hatte sich schon die schrecklichsten Gedanken gemacht, und alle Freude auf das morgige Weihnachtsfest war in ihr erloschen gewesen.
»Sie ist eben eine Gans«, sagte Martin immer wieder. »Wenn sie in Dresden nichts anderes lernt als Vergeßlichkeit, soll sie mir gestohlen bleiben.«
Eine halbe Stunde später lagen die Wagnerschen Kinder wieder friedlich in ihren Betten.
»Ätsch«, sagte Martin vor dem Einschlafen zu Kuno, »ich habe eine Marzipankartoffel bekommen, und du nicht.«
»Ich krieg den Schlagring, der ist mir viel lieber.«
Allerlei vom W und vom Weh
Das Weihnachtsfest war verrauscht, aber seine Nachklänge lagen noch über dem Wagnerschen Hause. Noch immer stand der geschmückte Weihnachtsbaum in der Mitte des großen Zimmers, noch immer waren die Gabentische aufgebaut, zu denen die Kinder eilten, um bald dieses, bald jenes Geschenk einer neuen Würdigung zu unterziehen.
Selbst Kuno hatte sich mit seinem Gabentische abgefunden. Anfangs hatte er freilich seine Enttäuschung nicht völlig verbergen können, nur der Zigarrenabschneider, in Form eines Brownings, hatte ihn befriedigt. Mit diesem Browning bedrohte er alltäglich Emma, die Köchin, und Wanda, das langjährige Stubenmädchen, die, als Kuno zum ersten Male vor sie hintrat, die wahnsinnigsten Schreie ausgestoßen hatte und durch ihr Gebrüll: »Mord – Mord!« die Nachbarschaft alarmierte.
Jetzt liefen die Zwillinge beständig als Indianer durch das Haus, sie belästigten sogar die Spaziergänger, so daß von mürrischen Dillstädtern allerlei Beschwerden in der Apotheke einliefen.
Einer der Beglücktesten war Harald Wendelin. Die in Liebe gebotenen Geschenke waren es nicht, die dem jungen Studenten solch eine Wärme ins Herz strömen ließen, es war die ganze Umgebung, die herzliche Güte, die er in diesem Hause empfing, die ihn in den Tagen seines Hierseins zum wunschlos Glücklichen machten. Niemand im Wagnerschen Hause bereute es, den jungen angehenden Ingenieur eingeladen zu haben, denn jeden wußte er auf seine Art zu erfreuen. Er war ein sehr angenehmer Gesellschafter, Bärbel ließ sich von ihm, der so vortrefflich Klavier spielte, alle neuen Tänze und Lieder vorspielen, Harald Wendelin mußte sie so oft wiederholen, bis Bärbel alle genau kannte. Sie war durchaus damit zufrieden, daß ihr Harald die übermütigen und lustigen Sachen eindrillte.
Aber nicht nur Schlager durfte er spielen, immer wieder brachte sie den Liederzyklus »Frauenliebe und Leben« herbei und fand, daß jedes dieser Lieder auf einen anderen ihrer Freunde paßte. Goldköpfchen hatte zu Weihnachten verschiedene Briefe und Karten bekommen und war sehr stolz auf dieses Gedenken der jungen Herren. Sogar Karl Schilling, der einstige Eleve des Gutes Körthenau, hatte ihrer gedacht. Er schrieb ihr, daß er hoffe, bald eine Stelle als zweiter Inspektor zu finden, und daß er nach wie vor in zärtlicher Sehnsucht an Bärbel denke.
Dann war ein zweiter Brief gekommen von Gerhard Wiese aus Dresden. Er hatte auch diesmal wieder ein Gedicht beigelegt und ehrenwörtlich versichert, daß diese Zeilen aus seiner Brust stammten. Er schwur bei seiner Verehrung für Bärbel, daß er den Vers nicht abgeschrieben habe.
Bärbel las das kurze Gedicht mehrfach durch.
»Es kann schon sein, daß es von ihm stammt, es klingt nicht so schön wie die anderen Gedichte. Aber zur Sicherheit will ich doch Herrn Wendelin fragen, der ja auch so viele Gedichte kennt.«
Sie suchte den Studenten auf.
»Ich habe ein Anliegen an Sie, Herr Wendelin. Ich quäle mich da mit einem Gedicht herum, das mir zufällig in den Sinn kommt. Ich weiß aber nicht genau, ob es von Heine, Schiller oder gar von Longfellow ist. Vielleicht können Sie mir helfen.«
»Ich will’s versuchen, Bärbel, aber ich kenne leider recht wenig Gedichte.«
»Es wird sicherlich wieder von Heine sein. – Also, hören Sie:
Nun ist das Weihnachtsfest endlich vorüber,
Nur einer, Holden, gelten meine Gedanken und Lieder,
Sie hat mich zwar ein Weilchen nicht mehr angeblickt.
Doch noch immer bin ich von ihr entzückt!
>Sie ist meine holde Weihnachtsfee,
Oh, wäre ich in ihrer Näh’.«
»Nun, von Heine ist das Gedicht wohl nicht«, lächelte Wendelin, »auch Schiller hat derartiges nicht gedichtet.«
»Könnte es vielleicht von einem zukünftigen Autor sein?«
»Nun, vielleicht von einem Gymnasiasten.«
»Richtig«, sagte Bärbel strahlend, »Sie sind doch sehr klug, Herr Wendelin. – Ob dieser Mann wohl eine große Zukunft vor sich hat?«
»Vielleicht,