Wilfried Kürschner

Grammatisches Kompendium


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»Allo-« in AllographAllograph (und weiter unten in AllophonAllophon) geht zurück auf griech. állos mit der Bedeutung ‘anders’. Er lässt sich gut verstehen, wenn man sich klarmacht, dass die Realisierung eines GraphemGraphems (besonders, wenn man an HandgeschriebenesSchriftHand-Handschrift denkt) jedes Mal etwas a n d e r s ausfällt – Größe, Form, Linienstärke usw. variieren von Fall zu Fall, dennoch handelt es sich jedes Mal um denselben BuchstabeBuchstaben (»BuchstabeBuchstabe« im Sinn von GraphemGraphem).

      Die Unterscheidung GraphGraphAllographAllograph bezieht sich nicht auf materiell voneinander unterschiedene Gegenstände, sondern ist eine theoretische Unterscheidung hinsichtlich des Aspekts, unter dem ein BuchstabeBuchstabe (im Sinn von BuchstabenvorkommenBuchstabenvorkommen) gesehen wird: als BuchstabeBuchstabe vor der Zuordnung zu einem TypTyp: GraphGraph – als BuchstabeBuchstabe, dessen Zuordnung zu einem TypTyp bekannt ist: AllographAllograph. Unter einem GraphemGraphem wird dagegen nicht ein konkret realisierter BuchstabeBuchstabe verstanden; GraphemGraphem steht vielmehr für eine abstrakte Zusammenfassung von vorhandenen und möglichen Realisierungen von BuchstabeBuchstaben, die denselben WertWert haben.

      Zum besseren Verständnis der Unterscheidung zwischen GraphGraph, GraphemGraphem und AllographAllograph sind vielleicht die folgenden Überlegungen hilfreich: Wenn ein Kind, das noch nicht lesen und schreiben gelernt hat, BuchstabeBuchstaben aus ihm vorliegenden Texten abmalt/kopiert, produziert es GraphGraphe; ihm ist die Zuordnung der einzelnen BuchstabenvorkommenBuchstabenvorkommen zu den unterschiedlichen BuchstabentypBuchstabentypen ja noch nicht bekannt. Es kann also durchaus der Fall eintreten, dass <g> und <g> wegen ihres Formunterschiedes nicht als »gleich« erkannt werden, <p> und <q> aber wegen ihrer Formverwandtschaft für »dasselbe« erklärt werden. Nachdem es einen Schreib-Lese-Lehrgang erfolgreich hinter sich gebracht hat und BuchstabeBuchstaben kopiert oder frei produziert, erzeugt das Kind AllographAllographe – ihm ist ja nun die Zugehörigkeit der einzelnen BuchstabenvorkommenBuchstabenvorkommen zu BuchstabentypBuchstabentypen klargemacht worden, es hat gelernt, von den Formunterschieden zwischen einem handschriftSchriftHand-Handschriftlichen <d> und einem <d> in DruckschriftSchriftDruck-Druckschrift abzusehen usw.

      GraphemGrapheme (und PhonemPhoneme als die entsprechenden Einheiten auf der Ebene der PhoniePhonie; ▶ Nr. 4.1/2) sind die kleinsten bedeutungsunterscheidende Einheitbedeutungs- bzw. zeichenunterscheidenden Einheitenzeichenunterscheidende Einheit einer Sprache. Dies lässt sich am besten anhand von MinimalpaarMinimalpaaren demonstrieren:

      3.2/8 MinimalpaarMinimalpaar

      Zwei ZeichenZeichen (mit unterschiedlichen BedeutungBedeutungen = InhaltInhalten), deren AusdrucksseiteAusdrucksseiten sich nur in e i n e r Einheit unterscheiden.

      Beispiel:

      Die AusdrucksseiteAusdrucksseiten der bedeutungsverschiedenen ZeichenZeichen ab und ob unterscheiden sich darin, dass vor dem Ausdruckselement <b> im einen Fall <a>, im anderen <o> steht. Der Inhaltsunterschied wird also allein von der OppositionOpposition zwischen den GraphemGraphemen <a> und <o> getragen.

      MinimalpaarMinimalpaare und Reihen von ihnen (z. B. ab – an – in – im – um) erlauben es, die InventarInventare kleinster zeichenunterscheidender Einheitzeichenunterscheidende Einheiten (= die Gesamtheit der GraphemGrapheme bzw. der PhonemPhoneme) zu ermitteln, und bieten die Möglichkeit, im Zweifelsfall rasch zu prüfen, ob zwei Elemente zu ein und derselben Einheit oder aber zu zwei verschiedenen Einheiten gehören.

      3.2/9 AlphabetAlphabet

      Das GrapheminventarInventarInventarGraphem-Inventar der in einer Sprache gebräuchlichen GraphemGrapheme.

      Das deutsche AlphabetAlphabet umfasst, je nach Betrachtungsweise, 30 oder 59 GraphemGrapheme. 30 Grapheme sind es, wenn die Unterscheidung GroßbuchstabeBuchstabeGroß-Großbuchstabe (= MajuskelMajuskel) – KleinbuchstabeBuchstabeKlein-Kleinbuchstabe (= MinuskelMinuskel) außer Acht gelassen wird (<a> bis <z> plus <ä>, <ö>, <ü>, <ß>); auf 59 kommt man, wenn man die aufgeführten GraphemGrapheme (außer <ß>, das nur als MinuskelMinuskel vorliegt1) jeweils als Paare von MinuskelMinuskel und MajuskelMajuskel betrachtet (<a>, <A>; <b>, <B> usw.), zusammengehörige Minuskeln und Majuskeln also nicht als AllographAllographe ein und desselben GraphemGraphems ansieht. Ein Argument für die zweite Betrachtungs- und Zählweise ist, dass es MinimalpaarMinimalpaare mit MajuskelMajuskel und entsprechender MinuskelMinuskel gibt (<Arm> – <arm>; <Biss> – <biss> … <Zwang> – <zwang>). Dem Gegenargument, die Zahl solcher MinimalpaarMinimalpaare sei äußerst beschränkt, kann das methodische Postulat, das in der Phonemtheorie (s. u.) entwickelt wurde, entgegengehalten werden: »Once a phoneme, always a phoneme« (auf die Graphemtheorie übertragen: »Was aufgrund des Vorliegens auch nur e i n e s MinimalpaarMinimalpaars als (AllographAllograph eines) GraphemGraphem(s) bestimmt worden ist, hat fortan als (AllographAllograph eines) GraphemGraphem(s) zu gelten«). Andererseits ist zu bedenken, dass jedes ansonsten mit Anfangsminuskel geschriebene Wort am Satz- bzw. Textanfang mit MajuskelMajuskel geschrieben werden muss und dieser Wechsel keinen Bedeutungsunterschied beinhaltet, sodass es unter diesem Aspekt angebracht erscheint, MinuskelMinuskeln und entsprechende MajuskelMajuskeln jeweils als stellungsbedingte VarianteVariantestellungsbedingteVarianten, d. h. als AllographAllographe, zu betrachten.

      

die MajuskelMajuskel/MinuskelMinuskel, der MajuskelMajuskel/MinuskelMinuskel, die Majuskeln/Minuskeln (Betonung auf -jus- bzw. -nus-)graphisch distinktives Merkmal

      3.2/10 Graphisch distinktivdistinktive Merkmaldistinktives MerkmalgraphischMerkmalgraphisch distinktivesMerkmale

      Graphische Komponenten, in die sich die AllographeAllograph von GraphemenGraphem zerlegen lassen.

      Aus den konkreten Realisierungen der GraphemGrapheme, ihren AllographAllographen, lässt sich eine kleine Zahl (nach Althaus 1980, S. 140: zwölf) von graphischen Elementen ermitteln (senkrechter, waagerechter Strich, Bogen, Kreis usw.) (▶ Tabelle 3):

      Tabelle 3: graphisch distinktives MerkmalGraphisch distinktive Merkmale (GDM) aus Althaus (1980, S. 140)

      Allographe der Grapheme lassen sich verstehen als jeweils spezifische Kombinationen dieser graphischen Elemente in bestimmten Schreibräumen (▶ Tabelle 4):

       Tabelle 4: SchreibräumSchreibraum e (SR) aus Althaus (1980, S. 140)

      Beispiel:

      Das AllographAllograph <F> lässt sich wie folgt beschreiben: GDM 1 in SR 6 steht vor GDM 4 in SR 1; Letzteres steht über GDM 4 in SR 2 (in Anlehnung an Althaus 1980, S. 140).

      »Distinktivdistinktiv« heißen die in ▶ Tabelle 3 aufgeführten MerkmalMerkmale deshalb, weil auf ihnen die zeichenunterscheidendezeichenunterscheidend (= zeichen-distinktivzeichendistinktive) Funktion (▶ vor Nr. 3.2/8) von GraphemGraphemen/AllographAllographen beruht. Zum Beispiel stehen <d> und <b> nicht als Ganzgestalten in OppositionOpposition zueinander, sondern lediglich aufgrund der MerkmalMerkmale 6 versus 7 aus ▶ Tabelle 3. Das MerkmalMerkmal 1 (»senkrechter Strich«) ist ihnen gemeinsam.

      Man beachte, dass die bisherigen Ausführungen dieses Abschnitts sich allein auf die Schriftseite beziehen, ohne dass die Beziehung zum Lautlichen, das mit der SchriftSchrift/SchreibungSchreibung verbunden ist, hergestellt wurde. Um diese von der LautungLautung zunächst absehende Betrachtungsweise auch terminologisch zu betonen, spricht man statt vom GraphemGraphem