Leipziger Missionsgesellschaft erwähnt, die ab 1892 Missionare nach Deutsch-Ostafrika (heute Tansania) entsandte. Diese besaßen für ihre Bildungsarbeit meist eine Handbibliothek religionspädagogischer Literatur, darunter Sammlungen von biblischen Geschichten und Bilderbibeln. Deren Auswahl und Übersetzung war auch den Gegebenheiten im Missionsgebiet geschuldet. So sollten beispielsweise Texte zur Beschneidung (im Alten Testament) ausgeklammert bleiben, um nicht den Eindruck zu erwecken, die in Ostafrika bestehende Beschneidungspraxis mit dem neuen Glauben legitimieren zu können.[8]
Urlaubs-, Bildungs- und Handelsreisen in andere Länder sind heute, wie eingangs erwähnt, kein Elitephänomen mehr. Inwieweit die Bibel dabei noch zum Reisegepäck gehört, lässt sich schwer sagen. Noch immer gehören Bibeln jedoch in vielen Hotels zur Grundausstattung eines Zimmers. Insbesondere der 1899 von Geschäftsleuten gegründete und noch heute aktive Internationale Gideonbund fühlt sich der Verbreitung der Bibel in Hotels, aber auch in Krankenhäusern, Schulen und Gefängnissen verpflichtet. Neben der Verbreitung der Bibel durch Mobilität, Migration und Mission haben in den vergangenen Jahrzehnten zudem elektronische Medien an Bedeutung gewonnen. Insbesondere im WWW finden sich heute zahllose Angebote, mit denen Menschen Bibelübersetzungen auf ihren Computern und Smartphones aufrufen und lesen können.[9]
Die Bibel als nationales Kulturgut: Luthers Meisterwerk und andere Übersetzungen
In der deutschen Erinnerungskultur gilt Martin Luthers Bibelübersetzung als Meilenstein auf dem Weg zu einer einheitlichen Nationalsprache und deutschen Kultur. Einen anschaulichen Eindruck von dieser Position geben die im 19. Jahrhundert entstandenen Lutherdenkmale u.a. in Wittenberg, Eisleben und Eisenach sowie der für das Reformationsjubiläum 2017 produzierte Playmobil-Luther. Sie zeigen den Reformator stets mit ‚seinem‘ Meisterwerk: Der deutschen Bibel. Diese Darstellungen, die den Beitrag von Philipp Melanchthon, Matthäus Aurogallus, Johannes Bugenhagen, Caspar Cruciger, Justus Jonas und Bernhard Ziegler zur 1534 erschienen Vollbibel nur unzureichend ins Bild setzen, bieten einen guten Zugang, sich mit der Entstehung und |96|dem Wandel nationaler Geschichtsbilder (z.B. in der Kaiser-, NS- und DDR-Zeit) zu beschäftigen.[10]
Die an der Entstehung eigenständiger Nationen orientierte Geschichtsschreibung hat auch für andere europäische Länder die Bedeutung ‚nationaler‘ Bibelübersetzungen unterstrichen. Zu nennen sind hier u.a. die französische Bible de Genève (1535), die spanische Reina-Valera-Bibel (1569), die tschechische der Böhmischen Brüder (1579–1593), die italienische Diodati-Bibel (1607) sowie die englische King-James-Version (1611).[11] Bei der Beschäftigung mit Bibelübersetzungen in der schulischen und gemeindlichen Bildungsarbeit dürfen jedoch heute nicht die Standards der neueren Nationalismusforschung aus dem Blick geraten. Diese hat nicht nur die politische und religiöse Instrumentalisierung der Idee der Nation in der Zeit des Nationalismus herausgearbeitet, sondern auch den konstruktivistischen Charakter von Nation und Nationalität nachgewiesen. Die Nation kann heute als eine europäische ‚Erfindung‘ des späten 18. und des 19. Jahrhunderts gelten. Deswegen ist diese kaum dazu geeignet, religiöse und pädagogische Entwicklungen in der Reformation und Frühen Neuzeit zu beschreiben.[12]
Die transnationalen, d.h. die Idee der Nation weder voraussetzenden noch auf sie hinweisenden Transferprozesse im Umfeld der King-James-Bibel belegen zudem die hohe Mobilität von Menschen und Ideen in der europäischen Gelehrtenrepublik:
1 „Viele europäische Humanisten forderten eine Übertragung der Bibel ins Lateinische oder sogar in die Volkssprachen aus dem hebräischen und griechischen Urtext. Nach dem Vorbild von Erasmus und Luther, die diese Forderung für das lateinische bzw. deutsche Neue Testament verwirklicht hatten, faßte William Tyndale (1494?-1536) den Plan zu einer neuen englischen Übersetzung […]
2 Die nächste Etappe in der Geschichte der englischen Bibelübersetzung ist mit dem Namen des vormaligen Augustinermönches Miles Coverdale (1488–1568) verknüpft. Aber wo Tyndale sich seinen eigenen Weg bahnte, verließ sich Coverdale weitgehend auf andere Übersetzungen, vor allem ins Deutsche: Seine Vorlagen, neben der Vulgata und der wörtlichen lateinischen Übertragung des Alten Testaments durch Pagninus, sind vor allem Luther sowie die Zürcher Bibel von Zwingli und Leo Jud, der er sogar bei Abweichungen vom Hebräischen und von der Vulgata folgte. Seine Bibel wurde wohl in Köln gedruckt und in Bogen nach England gebracht, wo sie 1535 erschien. […]
3 1537 veröffentlichte John Rogers unter dem Pseudonym Thomas Matthews eine Neubearbeitung der Tyndale/Coverdale-Bibel, in der nur OrMan, und zwar nach |97|dem französischen Text Olivétans, von ihm selbst übersetzt war; er fügte außerdem theologische Zusammenfassungen nach der französischen Übersetzung von Faber Stapulensis und zahlreiche Randbemerkungen nach Tyndale, Luther, Bucer, Erasmus, Pellikan u.a. bei. […]
4 Zu der Gruppe englischer Protestanten, die vor dem gegenreformatorischen Kurs der Maria Tudor nach Genf geflohen waren, gehörten auch einige tüchtige Gelehrte, die sich angesichts des Vorbilds der französischen Genfer Bibel und der ebendort vorgenommenen italienischen und spanischen Revisionen zu einer durchgreifenden Überarbeitung der englischen Bibel entschlossen. Sie begannen mit den Psalmen (1557 und 1559) und dem Neuen Testament (1557); die Vollbibel erschien 1560 in Genf. […]
5 Am Ende der Regierungszeit von Elisabeth I. (1603) gab es eine deutliche Unzufriedenheit über die Vielfalt der umlaufenden Übersetzungen. Jakob I. stimmte auf einer Konferenz, die sowohl von den Führern der Puritaner als auch von den Bischöfen besucht wurde, dem puritanischen Vorschlag zu, eine neue Übersetzung in engster Anlehnung an den hebräischen und griechischen Urtext anzufertigen […] Die so entstandene King James Version (oder Authorized Version) erschien 1611.“[13]
Die neuere Religions- und Bildungsforschung ist mit ihrem Interesse an grenzüberschreitenden Medien, Akteuren und Netzwerken auch für die Gegenwart aufschlussreich. Als Beispiel sei die illustrierte Kinderbibel Selina Hastings‘ genannt, die ins Deutsche übersetzt in zehn Auflagen erschienen ist. Die auf 146 Doppelseiten dargebotenen Geschichten (AT: 80, NT: 66) bieten einen „Mix aus bibelnaher Paraphrase und Sachbuch“, wobei die Autorin eine Versöhnung des biblischen Weltbilds mit neuzeitlichem Denken anstrebt; dies wird u.a. an der Illustration der Schöpfungserzählung deutlich, die den Verlauf der Evolution mit den sieben Schöpfungstagen gleichsetzt.[14] Hingewiesen sei auch auf „Herders Kinderbibel“, die in 10 Bänden erschienen ist und mit den durchgehend farbigen Bildern zu den erfolgreichsten Kinderbibeln in Deutschland gehört.[15] Die mit Transfers einhergehenden sprachlichen, aber auch visuellen Übersetzungsprozesse sind bisher nur in Ansätzen untersucht worden.
Bezogen auf den transatlantischen Transfer religiöser Ideen und Praktiken hat sich die Transferrichtung im 20. Jahrhundert gleichsam umgedreht: Wanderten mit den Bibeln und Katechismen der europäischen Siedler und Immigranten auch vielfältige Ideen und Praktiken religiöser Erziehung von Europa nach Amerika, finden sich heute – zumindest im deutschen Buchsortiment – zunehmend Übersetzungen US|98|-amerikanischer Bilder- und Kinderbibeln.[16] Diese prägen mit ihrer Bildästhetik, aber auch ihren moralischen Implikationen die religiöse Vorstellungswelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Ausstrahlungskraft US-amerikanischer Kultur in Literatur, Film und Musik ist damit auch im Bereich der Kinderbibelproduktion erkennbar.
Bibeldidaktik und transnationale Forschung: Unterrichtsideen und Desiderate
Die transnationale Religions- und Bildungsforschung bietet vielfältige Zugänge, die globale Dimension des christlichen Glaubens zu analysieren und bibeldidaktisch zu erschließen. Der mehrdeutige Begriff der Transnationalität bezieht sich dabei auf drei Forschungsfragen: Zum Ersten geht es um den grenzüberschreitenden Transfer von Büchern, Ideen und Praktiken von einem Ort an einen anderen (Transfergeschichte und Kulturtransferforschung). Indem Schülerinnen und Schüler beispielsweise Übersetzungsorte und Reisewege der Bibel (z.B. mit einer Stationsarbeit) kennenlernen und in eine Weltkarte eintragen, entdecken sie nicht nur die globale Dimension des christlichen Glaubens. Die Beschäftigung mit dem Thema eröffnet auch einen Zugang zu den vielfältigen Formen der Mobilität, Migration und Mission in der Bibel selbst (z.B. Pilgerreisen zum Jerusalemer Tempel, Exodus, Missionsreisen des Paulus