Weder können ausnahmslos alle biblischen Texte Gegenstand der Erarbeitung und intensiven Auseinandersetzung sein, noch bedürfen sie dessen. So werden, von spezifischen Ausnahmesituationen abgesehen, die Texte über die Ausstattung des Tempels in Ex 36–40Ex 36–40 oder die Opfervorschriften für die Priester in Lev 6Lev 6 kaum für die Lektüre in Religionsunterricht oder Katechese ausgewählt.
Die Bildung eines Kanons im Kanon ist darum nicht einfach nur negativ zu bewerten. Als Festlegung auf einen klar umgrenzten Textbestand, der keine Offenheit zeigt für andere Möglichkeiten, sondern biblische Texte und Themen ausklammert, ist sie problematisch. Als begründete und reflektierte Auswahl anhand offen gelegter bibeltheologischer und religionspädagogischer Kriterien trägt sie dazu bei, dass für das Selbstverständnis des christlichen Glaubens zentrale Texte nicht in Vergessenheit geraten. Würden etwa die biblischen Traditionen, die von der menschlichen Sünde handeln, verdrängt, weil das Nachdenken über Sünde obsolet erscheint, würde eine wesentliche Dimension des christlichen Glaubens ausgeklammert.[8] Weiter bedeutet eine reflektierte Auswahl Konzentration und Nachhaltigkeit: Das je neue Erschließen von bereits vertrauten Texten in verschiedenen Altersstufen und Lebenssituationen hat eine andere Zielsetzung als das nur quantitative „Kennen“ von möglichst vielen biblischen Traditionen. Nicht zuletzt bescheinigt analog zum biblischen Kanonisierungsprozess die religionspädagogische Kanonbildung den ausgewählten Texten Autorität: Sie erhalten die Bestätigung, maßgebliche Richtschnur für Leben und Glauben zu sein. Eine grundlegende (bibel)didaktische Aufgabe besteht demnach in der gezielten und begründeten Auswahl von Texten und der Bestimmung konkreter Kriterien.
|107|Unterschiedliche Kriterien – kein eindeutiger Schulkanon
Verschiedene bibeldidaktische Konzepte – die „Grundbescheide“ von H.K. Berg[9], die „Grundmotive biblischen Glaubens“ von G. Theißen[10] oder die „Schlüssel zur Bibel“ von P. Müller[11] – stecken einen Rahmen für die Auswahl ab.[12] Neue Impulse kommen von Vertretern der kanonischen Exegese[13], die für eine Neubewertung des biblischen Kanons und die Bibel in ihrer Einheit und Ganzheit als eigenständiges Thema plädieren, sowie von Seiten der Kindertheologie, die explizit andere zentrale Texte (z.B. das Johannesevangelium) und auch Sperriges einspielt, um die theologische Auseinandersetzung zu fördern.[14]Gen 32,23–33 Auf diesem Hintergrund bemängeln G. Steins[15] als Exeget und T. Nauerth[16] als Bibeldidaktiker an verschiedenen bibeldidaktischen Konzeptionen die Vernachlässigung des Kanons zugunsten eines von außen an die Bibel herangetragenen Schemas, während das Auswahlprinzip nur aus der Schrift selbst kommen kann – ein Anliegen, das sich mit dem reformatorischen „sola scriptura“ trifft. Im Gegenzug entwickelt Steins drei Leitlinien einer Bibeldidaktik, die den Kanon als „Lese-“ und damit zugleich auch „Auswahlhilfe“ zugrunde legen: „Gottes Volk“, „Heil“ und „Königtum Gottes“.[17]
|108|Innerhalb der Bibeldidaktik findet vor allem im Blick aufs AT und seine Verwendung im Primarbereich eine intensive Reflexion bezüglich der Textauswahl statt; ein eigener Diskurs kreist um altersspezifische Aspekte[18]. Dabei werden je nach Zielsetzung unterschiedlichste Kriterien angeführt: „Urbildliches“ und „Typisches“, historisch-kritische, hermeneutische, rezeptionsästhetische und entwicklungspsychologische Aspekte, Erzählbarkeit und sprachliche Form, didaktische Erschließbarkeit[19], was zu teilweise widersprüchlichen Auswahlentscheidungen führt. So gilt die Noach-Erzählung je nach Kriterium als konstruktiv oder destruktiv, das Buch Ijob als kindgemäß oder überfordernd, das Buch Jona als geeignet oder ungeeignet. Ähnlich verhält es sich mit den Kriterien, die für die Textauswahl bei Kinderbibeln benannt werden.[20] Sammlungen „elementarer Bibeltexte“ bieten eine Auswahl, ohne sie in jedem Fall zu begründen.[21] Von welchen Kriterien sich die Verantwortlichen für die Bildungspläne leiten lassen, warum Texte beibehalten, ausgeschieden oder neu aufgenommen werden, wird nicht transparent.
Angesichts der unterschiedlichen Kriteriologie und Auswahl legt sich der Schluss nahe: „Es existiert keine Palette von biblisch nötigen Erzählungen, die sozusagen eine unverzichtbare Vorauswahl bilden“.[22] Nicht nur im Blick auf die Primarstufe spricht „viel dafür, sich nicht zu sehr auf die Vorstellung eines aus religionsdidaktischen Prinzipien zwingend deduzierbaren und damit allgemein verbindlichen ‚biblischen Grundschulkanons‘ zu versteifen“.[23] Gerade die aus |109|der Kompetenzorientierung erwachsende größere Freiheit in der Auswahl von Texten ruft dazu auf, vom klassischen religionspädagogischen Kanon zugunsten unbekannter und wenig beachteter biblischer Traditionen abzuweichen.
Den Kanon im Kanon aufbrechen:
Hinweise für die praktische Arbeit
Wenn ein für die religiöse Bildung notwendiger „Kanon im Kanon“ nicht vorgegeben, sondern variabel ist, wenn vorliegende Textsammlungen allenfalls den Charakter von Orientierungshilfen haben, wenn grundsätzlich mehr Texte geeignet sind, als die jeweiligen Kinderbibeln oder Bildungspläne vorgeben, bedarf die Auswahl in der jeweiligen Situation von Unterricht, Katechese oder Bibelarbeit je neu didaktischer Überlegungen. Die Erkenntnis, dass die Auswahl von Texten vor aller Erschließung eine grundlegende didaktische Aufgabe darstellt[24], ist ein erster Schritt, um möglicher Kanonbildung vorzubeugen. Als unverzichtbar hat sich hier das Prinzip der Elementarisierung erwiesen, das exegetische, existenzielle, erfahrungsorientierte und entwicklungspsychologische Zugänge verbindet, das sowohl theologische Aspekte als auch die Aneignungs- und Verstehensbedingungen der Adressaten einbezieht und sich damit in dem von der Bibeldidaktik eingeforderten „Zwischen“ von Bibelwissenschaft und Adressatenorientierung[25], Tradition und Lebensbezug[26], theologischer und lebensweltlicher Relevanz bewegt. Die Berücksichtigung aller der genannten Dimensionen der Elementarisierung verhindert die einseitige Orientierung an Texten, die entweder leicht anschlussfähig an die jeweilige Lebenswelt erscheinen oder die umgekehrt nur um der Tradition willen ausgewählt werden. Über die bloße Auswahl eines Textes hinaus ist die Perspektive zu bedenken, unter der er thematisiert wird. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Dekalog exemplarisch für das jüdische Verständnis von Gesetz und Weisung, unter moralerzieherischen Aspekten oder als Freiheitstext erschlossen wird, oder ob die Noach-Erzählung die „dunkle“ Vorstellung von einem Gott, der die Vernichtung androht, thematisiert, oder auf eine Geschichte von der Rettung der Tiere reduziert wird.
|110|Aufbrechen lässt sich der Kanon im Kanon weiter durch die Arbeit mit der Bibel im Sinne einer Alteritätsdidaktik, die zum einen auf die Fremdheit der biblischen Glaubenstradition als solcher setzt, zum anderen die in Unterricht, Verkündigung und Katechese häufig verwendeten und womöglich überstrapazierten Texte gezielt zurücktreten lässt zugunsten von unbekannten, fremd oder gar anstößig erscheinenden Traditionen. Dass das Fremde mehr anzieht als das Altbekannte, gilt auch für biblische Texte. Möglicherweise erweist sich dann, dass das Buch Kohelet oder das Hohelied gar nicht so fremd erscheinen, sondern das Lebensgefühl heutiger Jugendlicher treffen, dass der Jakobszyklus durch die geschilderte Geschwisterthematik Grundschülerinnen mehr anspricht als die Abrahamstradition, dass die Erzählung von Kain und Abel Hauptschüler durchaus zu packen vermag, dass Opferrituale in ihrer Verknüpfung von Heiligem und Gewalt für die Unverfügbarkeit des Lebens sensibilisieren und dass irritierende Elemente durch Konflikte oder einen zürnenden Gott keineswegs zu einer Generalabsage an die Bibel als ganze führen. Auch die Bibellektüre nach den Regeln des kanonischen Lesens – „,Zusammenhänge aufnehmen‘ – ‚Mut zur Fläche (narrative Bögen, übergreifende Zusammenhänge!)‘ – ‚Mut zum Surfen im Inter-Text ‚Bibel‘!“[27], sei es nur durch die Beachtung der Verweisstellen am Rand – führt zur Entdeckung neuer Traditionen und schlägt den Bogen von der Schöpfung zur Neuschöpfung, von der Genesis zur Apokalypse. Gewährt die Begrenzung auf einen Kanon im Kanon zwar Sicherheit, aber vielfach auf Kosten von Eintönigkeit, können „fremde“ Texte die Bibel erstmals oder wieder neu „interessant“ erscheinen lassen – ein Ziel, dem sich nicht verwehren kann und darf, wer mit der Bibel arbeitet.
Leseempfehlungen
Adam, Gottfried/Lachmann, Rainer (Hg.), Kinderbibeln. Ein Lese- und Studienbuch. Münster 2006.
Diess./Schindler,