befähigt und verpflichtet, das Leben der Seelen, das Leben der ganzen Gemeinde zu gestalten … Die größte äußerliche und innerliche Not, die dem Auge sich darbietet, fordert dringend Abhilfe und nimmt immer mehr Zeit und Kraft in Anspruch.“147
Auch wenn Sulze mit seinem Gemeindeprogramm praktisch gescheitert war148, so sind hier doch Fragen gestellt, die zumindest als Impulse in die Seelsorgelehre des nächsten Jahrhunderts hinüberweisen.
Eine hohe Aufmerksamkeit auf die äußeren Nöte der Menschen findet sich auch in Seelsorgetheorien und -konzepten von einigen Theologen des Liberalismus. Otto Baumgarten (1858–1934), dessen Tätigkeit schon weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht, betont, die seelsorgliche Tätigkeit dürfe nicht zu einer Predigt zum „Sichschicken in die Zeit“ führen; dadurch würde der Pfarrer unweigerlich zum „Kapitalistenpastor in den Augen der Notleidenden“. Vielmehr müsse sich die seelsorgliche mit der sozialen Aufgabe verbinden, die Massennöte seien realistisch wahrzunehmen und die Seelsorger sollten Verständnis suchen für das Treiben auf dem „Markt des Lebens“.149
Die Hinwendung zur wirklichen, zur „modernen“ Welt – das ist es, was liberale Theologie, bei durchaus unterschiedlichen sozialpolitischen Optionen und kulturellen Interessen, auszeichnet. Sie war letztlich dann auch der Boden, auf dem sich eine Seelsorgetheorie entwickelte, in der neue Erkenntnisse einer Psychologie der menschlichen Persönlichkeit konzeptuell aufgenommen werden konnten.
Neben dem TRE-Artikel von Anselm Steiger (umfassende Darstellung mit besonderer Berücksichtigung der lutherischen Orthodoxie) ist hier der Überblick zur Geschichte der Seelsorge von Klaus Winkler (22000, 77–174) zu nennen. In dieser Seelsorgelehre werden u.a. die wichtigsten Poimeniker des 19. und 20.Jahrhunderts in Kurzporträts vorgestellt. Für den gleichen Zeitabschnitt ist auch die Darstellung von Friedrich Wintzer in dem von ihm herausgegebenen Reader zur Seelsorge (1987, XII–L) sehr informativ und aufschlußreich. In diesem Band finden sich auch wichtige Schlüsseltexte zur Geschichte der neueren Poimenik. Einzelne Epochen, besonders des 16. bis 18. Jahrhunderts, sind auf erhellende Weise von Werner Schütz dargestellt worden (1977, 9–64). Die Einzelporträts in Möllers Geschichte der Seelsorge I–III können dazu helfen, die überblickartigen Darstellungen exemplarisch zu vertiefen. Für die frühchristliche Seelsorge bietet Thomas Bonhoeffer (1985) grundlegende Einsichten.
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1Vgl für die frühen und vorchristlichen Anfänge: Bonhoeffer, Thomas: Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, München 1985, 30–85; Möller, Christian: Entstehung und Prägung des Begriffs Seelsorge, in: ders. (Hg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 1, Göttingen 1994, 9–19; vgl. auch Herbst, Seelsorge 172–192.
2Vgl. zum Seelenbegriff unten Einleitung 4.
3Die Geschichtlichkeit betrifft auch den Seelsorgebegriff selbst. Vgl. dazu: Bonhoeffer, Thomas: Zur Entstehung des Begriffs „Seelsorge“, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXXIII, Bonn 1990, 7–21.
4Über die notwendige Distanz und Nähe zur Tradition, also zum produktiven Umgang mit der Wahrnehmung von Geschichte und Geschichtlichkeit vgl.: Winkler, Klaus: Seelsorge, Berlin/New York 22000, 77ff.
5Ingo Baldermann versteht die Psalmen als „Sprache der Seele“ und „Gespräch mit der Seele“, ders.: Psalmen, in: Möller, Christian (Hg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 1, Göttingen