Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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und Seelsorgegeschichte. Elemente des pietistischen Frömmigkeitsanliegens und Glaubenserlebens sind in den Kirchen immer gegenwärtig – in einzelnen Gruppierungen, als Strömung innerhalb der Großkirchen oder in dem Auftreten von charismatischen Einzelpersönlichkeiten. Oft erscheinen dann die genuinen und berechtigten pietistischen Anliegen in radikaleren oder gesetzlicheren Formen als bei den Vätern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Das macht zuweilen Abgrenzungen erforderlich, die jedoch nicht den Blick dafür verstellen sollten, wie viel die Seelsorgepraxis der Kirchen gerade dem pietistischen Erbe verdankt.

      Mit dem Pietismus teilen die Aufklärungstheologen die entschiedene Ablehnung der Institutionalisierungen kirchlicher Seelsorge in der Gestalt von Privatbeichte und Kirchenzucht. Während aber die pietistische Seelsorge ihren besonderen Zielpunkt in der Ausbildung einer authentischen Frömmigkeit auf dem Hintergrund einer positiven Glaubensentscheidung hatte, ging es den von Rationalismus und Neologie geprägten Theologen mehr um die Bildung der Menschen und um Hilfe für die Bewältigung konkreter Lebensprobleme. Der entscheidende Unterschied zum Pietismus und zur Orthodoxie muss aber wohl in der kritischen Einstellung zu jeder Form von Autoritätsanspruch, auch und gerade einem geistlichen, gesehen werden.

      Nur einige Aspekte, die für die Geschichte der Seelsorge im Zeitalter der Aufklärung von Bedeutung sind, können hier hervorgehoben werden:

      1.Eine gewisse „Pädagogisierung der Theologie“ geht einher mit einer Neuprofilierung des Pfarrerberufs im Blick auf seine sozialpädagogische Funktion: „Der Pfarrer wird zum Volksaufklärer und Lehrer, der die Untertanen jene Verhaltensweisen und mentalen Einstellungen lehrt, welche zur Förderung der salus publica unumgänglich sind.“115 Der Pfarrer als „Lehrer der Weisheit und Tugend“116 ist dazu berufen, Menschen nach dem Maß der Vernunft zu bilden und ihnen Sitte und Religion ans Herz zu legen. Seelsorge wird so zu einer spezifischen Form des Unterrichtens. Auch in früheren Epochen gab es solche Akzentuierungen – man denke an Klemens und Origenes –‚ aber in der Aufklärungstheologie erfuhr diese wohl zum ersten Mal eine derart zugespitzte Ausprägung.

      2.Charakteristisch ist jetzt die Unterscheidung einer „allgemeinen Seelsorge“ von einer „speziellen“117. Die Aufgabe der allgemeinen Seelsorge besteht eben darin, dafür Sorge zu tragen, dass die Voraussetzungen für individuelle Existenz und Frömmigkeit gegeben sind. Dazu gehört die Sorge um die ökonomischen Lebensbedingungen, um Gesundheit, Ordnung, Recht und Moral, um ein geordnetes Ganzes. Die allgemeine Seelsorge hat es mit den sehr konkreten und realen Bedingungen des Alltagslebens der Menschen zu tun.

      3.Die spezielle Seelsorge – cura animarum specialis – geschieht vor allem im „Privatumgang“, also im Gespräch mit dem Einzelnen. Sie ist nicht mehr wie in den vorangehenden Zeiten so sehr auf die Überwindung der Sündhaftigkeit des Menschen konzentriert. Eher geht es auch hier um „Besserung“, aber diese kann jetzt erreicht werden durch Anknüpfung an den schon von Gott her gelegten guten Grund im Menschen. Es kommt für die Seelsorge darauf an, die ihr Anbefohlenen dazu zu befähigen, „vorkommende Fälle nach Gottes Wort und den Vorschriften desselben zu entscheiden.“118 Heute würden wir wohl sagen, es geht darum, dem Einzelnen dazu zu verhelfen, „sittliche Kompetenz“ (Herms) zu erlangen.

      4.Natürlich gehört zur speziellen Seelsorge auch die Beachtung der ganz konkreten Lebenssituation der einzelnen Gemeindeglieder. In gewisser Weise kann man davon sprechen, dass in der Aufklärung eine kasuelle Seelsorge geübt wird. Der katholische Pastoraltheologe Andreas Reichenberger nennt in seinen „Pastoralanweisungen von 1812 vier unterschiedliche Fallgruppen für die Seelsorge: „Kranke und Sterbende“, „Missetäter“, „Uneinige“ und diejenigen, „die einen Stand zu wählen im Begriffe sind“.119 Es geht dabei keineswegs nur um formale Rubrizierungen der seelsorglichen Praxis, sondern um das angestrengte Bemühen, dem Einzelnen in seiner ganz besonderen psychischen, sozialen und biographischen Situation gerecht zu werden.

      5.Der Aufklärung verdanken wir neue Konzepte einer professionelleren Pfarrerausbildung120, in deren Folge auch die Qualifikation für die Seelsorgearbeit an Gewicht gewinnt. So beginnt sich die Einsicht, dass für eine kompetente Seelsorgepraxis auch psychologische Fachkenntnisse benötigt werden, hier und da durchzusetzen.121 Besonders im katholischen Bereich gewinnt seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine ganz neue praktisch-theologische Disziplin – die „Pastoralmedizin“ bzw. „Pastoralpsychiatrie“ oder auch „Pastoralanthropologie“122 – an Bedeutung. Hier haben wir im Umkreis der Aufklärung also den Beginn einer Entwicklung, die im zwanzigsten Jahrhundert unter neuen und veränderten Bedingungen zur Herausbildung einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge geführt hat.

      6.In die Aufklärungszeit gehören auch die ersten Erfahrungen mit einer empirischen Seelsorgeausbildung. Dies gilt im katholischen Bereich für die Forderungen nach einer person- und praxisbezogenen Theologenausbildung.123 Für den Protestantismus ist besonders das 1781 von Heinrich Philipp Sextro gegründete „Pastoralinstitut“ in Göttingen zu erwähnen.124Hier ging es um eine ganz praxisnahe Seelsorgeausbildung. Die Kandidaten der Theologie führten im Krankenhaus „Andachtsübungen“ sowie „Privatunterhaltungen“ durch und hatten die dabei gemachten Erfahrungen dann in „gemeinschaftlicher Beratschlagung“, also einer Form von Supervision, für sich auszuwerten. Sextro hielt diese Form der Ausbildung für sehr wichtig, denn: „Das Spital ist eine treffliche Schule der moralischen Beobachtung und Menschenkenntnis.“125 Nur für eine knappe Generation hatte das „Pastoralinstitut“ in Göttingen Bestand. 1805 wurde es geschlossen, die Gründe sind unbekannt. Vielleicht war der Geist der Aufklärung hier seiner Zeit zu weit vorausgeeilt!

      Der bisher eingeschlagene Weg, einzelne Epochen der Seelsorgegeschichte durch ein sie besonders, wenn auch nicht ausschließlich charakterisierendes Seelsorgeverständnis zu kennzeichnen, kann für das 19. Jahrhundert nicht beibehalten werden. Das hat vor allem zwei Gründe, die mit der Sache selbst zusammenhängen:

      •Einmal: Die Seelsorge ist im neunzehnten Jahrhundert in ihr reflexives Stadium getreten. Zum ersten Mal entsteht jetzt eine Seelsorgetheorie im eigentlichen Sinne. Erst jetzt kann und muss versucht werden, die Seelsorge als ein besonderes Handeln in ihrer Beziehung zur Gemeinde im Ganzen und deren verschiedenen Lebensäußerungen sowie in ihrem Zusammenhang mit den glaubensmäßigen „Grundsätzen der evangelischen Kirche“ (Schleiermacher) zu begreifen. Die Herausforderung zur Entwicklung einer spezifischen Seelsorgetheorie ergibt sich auch aus der jetzt veränderten geistigen und kulturellen Situation. Wenn in der nun säkular werdenden Gesellschaft die traditionalen Lebensformen nicht mehr mit Selbstverständlichkeit geübt werden, droht der kirchlichen Seelsorge ihr primäres Bezugsfeld zu entgleiten. Es ist also erst einmal ein „Orientierungsrahmen“ zu benennen, in dem Seelsorge als ausreichend begründet zu erscheinen vermag. Seelsorge wird so zum „Dauerthema theologischer Reflexion“ und „zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin“.126 Die Folge dieser Entwicklung ist, dass eine Darstellung der Seelsorge selbst mit der der Seelsorgelehre nicht mehr zusammenfällt. Die Praxis und deren wissenschaftliche Reflexion sind in ihrer literarischen Darstellung durchaus zwei verschieden Genera.127 Will man über Seelsorgepraxis im 19. Jahrhundert etwas mitteilen, dann genügt es eben nicht, nur Literatur über die Seelsorge zu referieren. Vielmehr ginge es darum dem Niederschlag seelsorglicher Praxis in den verschiedenen möglichen Formen nachzugehen: in der zeitgenössischen Literatur (etwa die Pfarrergestalten!), im Erbauungsschrifttum, in der Predigtliteratur, in Biographien und anderen Lebenszeugnissen usw. Hier tut sich eine lohnenswerte und interessante Forschungsaufgabe auf, die in Analogie bzw. Ergänzung zur Alltags- und Kulturgeschichte zu leisten wäre. Im Rahmen dieser Einführung kann sie nicht in Angriff genommen werden.

      •Der zweite Grund: Der Protestantismus ist im 19. Jahrhundert