Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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Sünden konnte vor dem Bischof allein erfolgen. Darüber hinaus war auch eine geschwisterliche „Zurechtweisung“ der Einzelnen untereinander bekannt. Augustin etwa schätzte sie sehr hoch, unterschied sie aber noch von der unverzichtbaren öffentlichen Buße.45 Seit dem fünften Jahrhundert nimmt die Tendenz zu, die Beichte lebenszeitlich möglichst weit hinauszuschieben, um nicht durch erneutes Sündigwerden des ewigen Heils verlustig zu gehen.

      Der entscheidende Anstoß zu einer Veränderung der Beichtpraxis kam aus der keltischen Kirche. Dort war das öffentliche Sündenbekenntnis im Gottesdienst unbekannt. Dagegen war – ähnlich wie in den Klöstern – die private und wiederholbare Beichte vor einem Seelsorger mit Zuspruch der Absolution in Übung. Im Zuge der Missionstätigkeit iroschottischer Mönche kam die Praxis der Privatbeichte auf den Kontinent und wurde hier – zunächst erst einmal im Westen, später auch im Osten – seit dem sechsten Jahrhundert zur herrschenden Beichtform. Mit der Individualisierung der Beichte kamen „wichtige monastische Ideale in das Leben und Denken der Gesamtkirche hinein.“46 Und wo die Beichte im Dienste der Tilgung der Alltagssünden verstanden wurde, war auch die Laienbeichte verbreitet.47 Die regelmäßige Beichte gab den Gläubigen die Möglichkeit, sich der dunklen Seiten des individuellen Lebens und der Erfahrungen des Bösen immer wieder bewusst zu werden. Sie bot Gelegenheit auszusprechen, was die Seele belastete, und so neue Freiheit zum Handeln und zum Glauben zu erlangen. Sofern die Beichte nicht in ihrer Ritualisierung erstarrte, konnte sie zum Stimulans bewusster Existenz werden. Wie weit es möglich wurde, die in dem Institut der Privatbeichte liegenden Chancen auch wirklich zu realisieren, steht auf einem anderen Blatt.

      Einschneidend war gerade in dieser Hinsicht dann die Erhebung der Privatbeichte zur Pflichtleistung für jeden Christen. Tendenzen dazu bestanden seit dem 8. Jahrhundert. Endgültig kanonisiert wurde die Pflichtbeichte auf dem 4. Laterankonzil 1215. Jeder Christ war fortan verpflichtet, einmal im Jahr vor einem Priester zu beichten.

      Eine durch das ganze Mittelalter hindurch diskutierte Frage war, welche Voraussetzungen erfüllt sein mussten, um auf das Bekenntnis der Sünden die Vergebung zusprechen zu können. Genügte das Beichtbekenntnis? War also das Aussprechen schon der Vergebungsgrund? Oder war dies erst die sich damit verbindende Reue (contritio cordis)? So etwa sah und vertrat es Abälard. Oder aber waren bestimmte Vergeltungsleistungen erforderlich – gemäß dem Entsprechungsdenken: jede ungute Tat musste durch eine ihr entsprechende Bußhandlung gesühnt werden (satisfactio operis). Der Hauptstrom der mittelalterlichen Entwicklung wies in diese Richtung. Die vielen Bußbücher mit einer ausgeführte Kasuistik48, in der die einzelnen Bußstrafen minutiös festgelegt wurden und aus der heraus sich dann auch das Ablasswesen konstituieren konnte, gehören in diesen Zusammenhang. Sie geben Zeugnis von einem Prozess der Verrechtlichung und Veräußerlichung der christlichen Beichtpraxis. Es muss freilich auch gesagt werden, dass die hier erkennbare Sakramentalisierung der Buße gemildert wurde durch spirituelle Bewegungen, die bewirkten, dass immer wieder „neue Wellen der Bußgesinnung und tätiger Bußbereitschaft“49 die Beichtpraxis belebten und verinnerlichten.

      Die Institutionalisierung der Pflichtbeichte in der mittelalterlichen Kirche entsprang dem Wunsch, „alle Gläubigen seelsorglich zu erfassen“50. Und es verband sich damit das Bestreben, die Pfarrer möchten ihre seelsorglichen Aufgaben bei ihren Gemeindegliedern – auch über die Formen des Beichtrituals hinaus – ernsthaft wahrnehmen bzw. die Beichte als eine Gelegenheit zur Seelsorge nutzen. Einzelne Stimmen unterstrichen dies immer wieder und wiesen damit direkt oder indirekt zugleich auf die unbefriedigenden Seelsorgezustände in den Gemeinden hin. Der Reformtheologe Johannes Gerson etwa meinte, ein Pfarrer begehe „Ehebruch“, wenn er es an Seelsorgeeifer mangeln lasse; denn auch den „einfachen Seelen“ solle man „mystische Erfahrungen“ zutrauen. Gerson vertrat eine verinnerlichte Beichtpraxis, die eine einseitig „sakralinstitutionelle“ Frömmigkeit überwinden bzw. positiv ergänzen wollte.51

      An grundlegenden Konzepten für eine individuelle und realitätsnahe Seelsorgepraxis hat es gewiss nicht gefehlt. Hier ist auf die monastischen Traditionen mit ihren ausgeprägten Seelsorgepraktiken hinzuweisen. Besonders aber muss die „Regula pastoralis“ Gregors des Großen (gest. 604) erwähnt werden, die das ganze Mittelalter hindurch hohes Ansehen genoss.52 Natürlich geht es in dieser für die Geschichte der Seelsorge so bedeutenden Schrift vor allem und zuerst um den Kampf gegen die Sünde, aber die Regula pastoralis leitet die Seelsorger zu differenziertem Vorgehen an. Gregor gibt ihnen hier, so schreibt Christian Möller, eine „christliche Sittenlehre“ an die Hand, um sie „für eine kontextuelle Seelsorge zu sensibilisieren“53. Unter Bezugnahme auf Gregor von Nazianz weist er darauf hin, „dass nicht für alle die gleiche Art der erbaulichen Belehrung zuträglich ist“54. Die ganze Regula dient ausschließlich der Anleitung zu einer person- und situationsspezifischen Seelsorge: „Anders sind die Männer anzusprechen, anders die Frauen; anders die jungen Männer, anders die Senioren, anders die Armen, anders die Reichen … anders die Hochmütigen, anders die Kleinmütigen … anders die Gesunden, anders die Kranken …“55. Die Genera von Predigt und Gespräch mögen dabei nicht immer ganz klar unterschieden sein, aber der seelsorgliche Grundtenor ist ganz eindeutig. Und es geht Gregor um eine konfrontierende und zugleich ermutigende Seelsorge. Den „Hochmütigen“ z.B. gilt es zu zeigen, „Dass ihre vermeintlich guten Taten eigentlich Sünde sind“, während es für die Kleinmütigen angemessen sei, „wenn man nebenbei ihre guten Seiten streift und so einiges anerkennt und lobt, während man anderes an ihnen rügen muss; auf diese Weise soll ihr schwaches Selbstwertgefühl wieder gehoben werden, das durch die Rüge niedergedrückt wurde.“56 Das ist eine Seelsorge, die den Einzelnen und seine materielle wie seelische, seine geistige wie geistliche Befindlichkeit im Auge hat, auch wenn uns vielleicht der erzieherische Unterton heute eher befremdlich erscheinen mag. Wichtig bleibt, dass Seelsorge nur dann wirklich gelingt, wenn der Seelsorger selbst in dem, worin er andere „ermahnt“, ein Vorbild darstellt. Es geht nicht an, wenn einige „Kenntnisse zur Schau zu stellen versuchen, die zu erwerben sie unterlassen haben“57. Das nur „Richtige“ nützt nicht und hilft keinem. Erst die eigene Erfahrung des Seelsorgers macht seinen Rat wertvoll für andere. Darum sollen, so Gregor, Seelsorger fähig werden zur Introspektion: Ehe sie anderen einen Weg weisen, „sollen (sie) zuvor die Gedanken auf sich richten“58.

      Gegen die gesamtkirchlich umfassende Verwirklichung einer aus diesem Geist fließenden Seelsorge- und Beichtpraxis sprachen vor allem zwei Faktoren. Die immer stärkere Konzentration des Priesterdienstes auf den korrekten Vollzug des Messgottesdienstes einerseits und der überaus geringe Bildungs- und Ausbildungsstand des gemeinen Klerus andererseits. Mit der Einführung der Pflichtbeichte waren Beichte und Seelsorge immer stärker an die Ortsgeistlichen gebunden. Diese waren aber oft zu nicht mehr in der Lage, als die Sonntagsliturgie einigermaßen richtig zu lesen und zu vollziehen. In der Stadt mag die Situation geringfügig besser gewesen sein als auf dem Dorf, vor allem auch dank der seelsorglichen Aktivitäten der Bettelorden. Aber der Bildungshorizont der meisten Pfarrer war in jedem Fall gering. Erst gegen Ende des 15.Jahrhunderts gibt es eine größere Anzahl akademisch gebildeter Seelsorger in den Gemeinden. Ein anschauliches Bild der pastoralen Situation auf dem Dorf vermittelt Arnold Angenendt: „Die Seelsorge vor Ort oblag „Vikaren“, den „Leutpriestern“, die oft kaum ihr Auskommen hatten und es an Seelsorge, die jetzt auch auf dem Dorf verlangt wurde, mangeln ließen. Der eingesessene Dorfpfarrer war überdies Bauer unter Bauern, hatte zur Subsistenz die mit dem Pfarrhof verbundene Landwirtschaft zu betreiben, lebte nicht selten mit seiner Magd ehelich zusammen und hatte seine Kinder zu versorgen, was oft genug zu Lasten des Pfarrgutes ging.“59

      Die Betrachtung der seelsorglichen Landschaft in der mittelalterlichen Kirche zeigt, dass es nicht unproblematisch ist, wenn die Wahrnehmung der Seelsorgeaufgaben zu stark in die Nähe des liturgischen Dienstes rückt, ihre ursprüngliche, bei Klemens und Origenes besonders betonte, Verbindung zu Kultur und Bildung dagegen in den Hintergrund tritt.

      Denn gerade die bei Gregor dem Großen geforderte Kontextualität von Seelsorge verlangt von den Seelsorgern eine hohes Maß an Sensibilität und sprachlichem Ausdrucksvermögen. Die Form der Beichte stand dem vom Prinzip her keineswegs entgegen, in ihrer stark formalisierten und ritualisierten Gestalt aber führte sie dazu, dass