Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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im Briefvorgang darstellt, eine ziemliche Asymmetrie aufweist. Die Briefseelsorge des Paulus ist in einem hohen Maße autoritätsbetont (z.B. 1 Kor 4,14ff.) und sie bedient sich einer ausgesprochen direktiven Methodik.22 Man lese unter diesem Gesichtspunkt nur einmal das siebente Kapitel des 1 .Korintherbriefs. Die Gefahr, hier anachronistisch zu urteilen, muss erkannt werden, man darf Paulus in seinen Briefen nicht an den Maßstäben der Rogers-Schule messen. Aber man darf seine seelsorgliche Haltung ebenso wenig zur methodischen Norm für heutige Seelsorgepraxis erheben. Wenn man sich über beides im Klaren ist, dann bleibt, dass wir es in den paulinischen Briefen mit sehr lebendigen, aber keineswegs unumstrittenen Seelsorgeprozessen zu tun haben?23

      6. Schließlich wäre nun hinzuweisen auf seelsorgliche Beziehungen der Gemeinden und Gemeindeglieder untereinander. Es ist zunächst ganz unverkennbar, dass das Leben in der Nachfolge Jesu in der gesamten neutestamentlichen Überlieferung ein seelsorgliches Beziehungsklima untereinander einschließt (Lk 9,48; Mt 10,43f.; Joh 13,14ff.; 15,12; Apg 2,42ff.). Das geschwisterliche Leben miteinander ist jedoch nicht selbstzwecklich; die konkrete Zuwendung zu Menschen, die bedürftig sind, darf nicht an den Grenzen der Gemeinde enden (Mt 11,28; 25,40; 1 Tim 2,4). Es ist nicht sehr sinnvoll, den Seelsorgebegriff so weit zu fassen, dass er alle Weisen des Sich-einander-Zuwendens einschließt und praktisch zum Äquivalent für die Liebe wird. Die Frage ist, ob es in den urchristlichen Gemeinden auch eine spezifische seelsorgliche Praxis gibt, die in etwa unserer formalen Strukturbeschreibung entspricht24. In 1 Thess 5,12–15 bittet der Apostel die Gemeinde um die Aktivierung ihres seelsorglichen Potenzials. Es scheint dort Gemeindeglieder zu geben, die in besonderer Weise seelsorgliche Aufgaben wahrnehmen (V. 12: „die an euch arbeiten“), und es werden spezifische Zielgruppen seelsorglichen Handelns erwähnt (V. 14: „Unordentliche“, „Kleinmütige“, „Schwache“). Auch an anderen Stellen spricht Paulus die Gemeinde auf sehr konkrete seelsorgliche Vollzüge hin an (2 Kor 2,5–11; Röm 12,12ff.). Von daher jedoch darauf zu schließen, dass es in den paulinischen Gemeinden bereits eine institutionalisierte Form von Seelsorge gab, wäre sehr gewagt.

      7. Es scheint so, dass sich in den urchristlichen Gemeinden besonders mit dem Ältestenamt unterschiedliche seelsorgliche Funktionen und Erwartungen verbanden (Apg 14,22; 15,36f.).25 Ein praktisches Beispiel von Ältestenseelsorge im speziellen Fall der Kranken- und Sterbendenbegleitung wird in Jak 5, 14ff. geschildert: Es ist allerdings nicht klar, wieweit dieses Beispiel für die zweite und dritte Generation schon repräsentativ ist.

      Im Ganzen muss man wohl davon ausgehen, dass für die Funktionsträger in der Gemeinde der Dienst an Lehre und Verkündigung einen Primat hatte, und dass alle seelsorgliche Verpflichtung und auch alle seelsorgliche Praxis darauf bezogen war.

      Eine fundierte, den Leser freilich auch fordernde Darstellung der Anfänge christlicher Seelsorge bis ins 5. Jahrhundert bietet Thomas Bonhoeffer (1985). Ergänzend können die biblischen und altkirchlichen Kapitel in Christian Möllers Geschichte der Seelsorge I (1994) herangezogen werden. Einen gründlichen Einstieg in die paulinischen Grundlagen der Seelsorge geben die Monographien von Roland Gebauer (1997) und Ulrich Heckel (1997). In beiden Arbeiten sind exegetische und poimenische Aspekte in eindrucksvoller Weise miteinander verbunden. Heckel gibt zudem ganz praktische Hinweise für eine Seelsorge mit der Bibel. Dafür sei schließlich auch auf das aus der Praxis erwachsene Buch von Peter Bukowski (1996) verwiesen.

      Bonhoeffer, Thomas: Ursprung und Wesen der christlichen Seelsorge, München 1985

      – Zu Entstehung des Begriffs „Seelsorge“, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXXIII, Bonn 1990, 7–21

      Breuning, Wilhelm (Hg.): Seele. Problembegriff christlicher Eschatologie, Freiburg/Basel/Wien 1986

      Bukowski, Peter: Die Bibel ins Gespräch bringen. Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge, Neukirchen 31996, 92013

      – Die christliche Tradition im Blickpunkt der Seelsorge, in: HbS 186–201

      Fritsch, Stefan. Die chassidische Seelsorge. Pastoralpsychologische Aspekte und Impulse für die therapeutische Arbeit, Frankfurt a.M. 1997

      Gebauer, Roland: Paulus als Seelsorger. Ein exegetischer Beitrag zur Praktischen Theologie, Stuttgart 1997

      Heckel, Ulrich: Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2 Kor 10–13, Tübingen 1993

      – Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997

      Henning, Gerhard: Wie redet die Bibel von der Seelsorge? In: Theologische Beiträge 32, 2001, 181–191

      Kähler, Christoph: Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, Tübingen 1995

      Jüttemann, Gerd u.a. (Hg.): Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim 1991

      Lückel, Kurt: Geschichten erzählen vom Leben. Hinterfragte Lebensmuster, Göttingen 1993

      Mickel, Tobias: Seelsorgliche Aspekte im Hiobbuch, Berlin 1990

      Möller, Christian (Hg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 1, Göttingen 1994

      Piper, Hans-Christoph: Heil und Heilung. Zur Hermeneutik der neutestamentlichen Heilungsgeschichten, in: Klessmann, Michael/Lückel, Kurt (Hg.): Zwischenbilanz, Bielefeld 1994, 57–69

      Tacke, Helmut: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden. Beiträge zu einer bibelorientierten Seelsorge, Neukirchen 1989

      Eine wirkliche „Geschichte der Seelsorge“ kann hier nicht dargeboten werden. Sie ist bisher ohnehin nur in Ansätzen geschrieben worden.26 Vom Genus her ist gar nicht klar, was da hineingehört. Seelsorge und Seelsorgelehre lassen sich nicht so einfach voneinander trennen. Einen formal definierten Seelsorgebegriff gibt es für die Alte Kirche so wenig wie für das Neue Testament. Was Seelsorge ist, lässt sich für die einzelnen Epochen, vor allem der älteren Kirchengeschichte, nicht so klar sagen. Predigt und Katechumenat sind eindeutigere Handlungsfelder. So sind notgedrungen bei einer geschichtlichen Darstellung von Seelsorge ganz unterschiedliche Genera interaktiven Glaubensvollzugs im Blick: religiös-sittliche Erziehung, Spiritualität, Dienste der Liebe, pastorales Handeln in der Gemeinde, apologetische Auseinandersetzung. Und es müssen sehr unterschiedliche Sorten von Quellentexten herangezogen werden: aszetisches Schrifttum, Briefe, Schriftauslegungen, geistliche Betrachtungen, pastoraltheologische Traktate usw. Wie tatsächlich Seelsorge getrieben wurde, von Mensch zu Mensch, ist uns im Grunde wenig bekannt. Verbatims von Seelsorgegesprächen gibt es erst in der Neuzeit. Sehr interessante Einblicke in die Seelsorgegeschichte bieten Einzelporträts in der von Christian Möller herausgegebenen „Geschichte der Seelsorge“27. Da wird Seelsorge jeweils im Kontext einer Biographie und eines Lebenswerkes konkret und kohärent dargestellt. Aber es kommt dadurch natürlich noch kein Epochenbild zustande. In unserer unvermeidlich sehr gedrungenen und eklektischen Darstellung wollen wir versuchen, jeweils eine charakteristische Inhaltbestimmung für einen Zeitabschnitt zu formulieren und dieser Einzelaspekte zuzuordnen. Wir gehen dabei von der Hypothese aus, dass jede Epoche einen für das Gesamtverständnis von Seelsorge wichtigen Teilaspekt besonders betont hat. Keiner dieser Teilaspekte ist nur Vergangenheit. Ihre genaue Wahrnehmung kann die Augen öffnen für vergessene oder unterbetonte Aspekte unserer Seelsorge und Seelsorgelehre von heute. Ohne gewisse Vergröberungen geht es dabei nicht.

      Für das im endzeitlichen Erwartungshorizont lebende frühe Christentum spielt das Streben nach möglichst sündloser Seinsweise eine bedeutsame Rolle. Die gläubig gewordenen Christen wollten unversehrt dem Tag der Parusie entgegengehen und ohne