verkündigendes Interesse. Und wenn sie, wie etwa Lukas in der Apostelgeschichte, die Praxis der Gemeinde beschreiben, dann primär im missionarischen oder kerygmatischen Interesse. Allenfalls indirekt sind Rückschlüsse denkbar. Mehr als Fragmente seelsorglicher Praxis werden dabei nicht zu Tage treten.
Zum andern muss man sich bei der historischen Rückfrage klar machen, wonach eigentlich gefragt werden soll. Die Gefahr, ein modernes – sei es therapeutisches, sei es evangelikales, sei es kerygmatisches – Seelsorgekonzept in die biblischen Texte einfach hineinzuprojizieren, ist ziemlich groß. Es macht sich gut, die eigene Sicht als die „biblische“ zu adeln. Nicht selten hat aber das, was als „biblische Seelsorge“ firmiert, mit der jesuanischen oder urchristlichen Praxis – jedenfalls historisch – nur sehr wenig zu tun.
Fragen wir nach der Seelsorge in der Bibel, dann ist es wichtig, zuerst einmal festzulegen, was in diesem Fragezusammenhang unter Seelsorge verstanden werden soll. Es ist klar, dass hier nur ein verhältnismäßig formaler Seelsorgebegriff in Betracht kommt. Nur er kann vor den projektiven Fallen schützen. Man kann einen solchen formalen Seelsorgebegriff so beschreiben: Es geht um einen kommunikativen Vorgang zwischenmenschlicher Hilfe mit dem Ziel einer konkreten Stärkung und Hilfe für Glauben und Leben. Dieses Geschehen vollzieht sich in der Regel zwischen zwei Menschen, einem zur Hilfe bereiten Akteur und einem der Hilfe bedürftigen Rezipienten. Die regelhafte Rollenzuweisung sollte nicht im Sinne einer Rollenfixierung verstanden werden.
Eine ganze Reihe von Verben im Alten und Neuen Testament weisen nun tatsächlich auf solche seelsorglichen Vorgänge hin. Das Wort „Seelsorge“ selbst oder ein entsprechendes Verbum fehlt in den biblischen Schriften. Aber es gibt doch eine Reihe von sprachlichen Äquivalenten, wobei wir wiederum Acht haben müssen, sie zu schnell in einer etwa pastoralpsychologisch gefärbten Bedeutung zu vereinnahmen: trösten (Hiob 2,11; Jer 31,15; Mt 5,4; 2 Kor 1,3f.); ermahnen (Röm 12, 1.8; 2 Kor 6,1; 1 Thess 5,11); einen Weg weisen (1 Kor 12,31); weiden (Joh 21,15ff.), sich des andern annehmen (Röm 12,13), zurechthelfen (Gal 6,1); helfen (1 Kor 12,28); barmherzig sein (Lk 6,36, Kol 3,12; Lk 15,10). Viele dieser Wörter, die für sich selbst und in ihrem Kontext in eine seelsorgliche Richtung weisen, haben im biblischen Sprachgebrauch ihre Eigentümlichkeit darin, dass zuerst – im theologisch-qualitativen Sinn – Gott oder Christus ihr Subjekt bildet: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Jahwe ist der Tröster (Jes 40,1; Ps 73,1; Jes 66,13; 2 Kor 3,1ff.) und Christus ist der wahre Hirte (Joh 10, 1–17; 1 Petr 2,25). Von ihm geht das heilende Erbarmen aus (Mk 9,36). Schon so weist die biblische Tradition auf den wahren Grund aller „Seelsorge“, der unter keinen Umständen aus den Augen verloren werden darf.
Im Folgenden sollen einige Einzelaspekte von „Seelsorge“ in der Bibel hervorgehoben werden. Dabei ist keineswegs Vollständigkeit angestrebt. Der oben dargelegte formale Seelsorgebegriff ist dabei auswahlleitend:
1. Im Alten Testament entspricht das Wirken der „Weisen“ wohl am ehesten dem, was wir unter seelsorglicher Arbeit verstehen: „Während man den Priester um der Tora (Weisung) und den Propheten um des Dabar (Wort) willen aufsucht, geht man zum Weisen, um Eza (Rat) zu empfangen (Vgl. Jer 18,18)“12. In der Weisheit geht es ähnlich wie in der Seelsorge um die „Sensibilisierung für Erfahrungen mit Gott und den Menschen.“13 Unsere modernen vor allem subjekttheoretisch begründeten Probleme mit einer einseitig auf „Rat geben“ orientierten Seelsorge dürfen wir in dieses biblische Modell freilich nicht eintragen.
Natürlich sollte seelsorgliches Handeln im Alten Testament nicht auf die weisheitliche Wirksamkeit reduziert werden. So darf man, um wenigstens noch ein weiteres Beispiel zu nennen, das Buch Hiob „mutatis mutandis als seelsorgliches Reflexionsmodell“14 erkennen. Seelsorgeerfahrungen, gerade auch solche fragwürdiger Art (Hiobs Freunde!), werden hier reflektiert, und dadurch entsteht im Grunde eine neue Form seelsorglicher Kommunikation. So hat gerade das Buch Hiob immer wieder – gleichsam als seelsorglicher Akteur sui generis – seelsorglich auf Menschen gewirkt, die sich in großer Leibes- und Seelennot befinden.
Auch hinter den Psalmen dürften Erfahrungen seelsorglicher Praxis ebenso verborgen sein wie bei manchen prophetischen Texten. Vielfach sind die kommunikativen Strukturen noch gut erkennbar, die die Texte als seelsorglich ausweisen (etwa Ps 25; 139; Jes 40,26–31; Hiob 38ff.).
2. Schnell sind wir bereit, Jesu Verhalten zu seinen Mitmenschen in Not als das Urbild für Seelsorge überhaupt anzusehen. Aber wie nah wir wirklich an den historischen Jesus herankommen, ist eine offene Frage. Mir leuchtet ein, wenn Gerd Theißen Jesus als einen „Charismatiker“ charakterisiert. Das bedeutet auch, dass seine „Seelsorge“ nicht ohne weiteres vergleichbar ist. „Jesus war ein Charismatiker, von dem eine schwer erklärbare Ausstrahlungskraft ausging, faszinierend für Anhänger, irritierend für Gegner.“15 Seine Fähigkeit, „unkonventionelle Werte und Verhaltensweisen vertreten zu können“16, mag als Voraussetzung für eine Seelsorge interpretiert werden, die dem anderen Freiheit lässt und Raum gewährt. Jesu heilende Begegnungen mit den Unterprivilegierten und Stigmatisierten in der Gesellschaft, mit den „Sündern“ und „Zöllnern“, mit den Kranken und mit den Frauen ist der beredte Ausdruck dafür. Es ist darin eine seelsorgliche Grundhaltung17 zu erkennen, die Jesus selbst wohl charismatisch umsetzte, die aber doch auch einen Maßstab setzte für ein Verhalten aller derer, die in seiner Jüngerschaft leben wollen. „Sehet zu, dass ihr nicht einen von diesen Kleinen verachtet“ (Mt 18,10; Vgl. 18,2ff.) – das zeigt die Richtung an, in welche die seelsorgliche Aufmerksamkeit in der Nachfolge Jesu gelenkt werden sollte. Es dürfte zugleich so etwas wie der Kanon jeder Seelsorge in seinem Namen sein.
3. Ein wichtiger Zugang zur seelsorglichen Praxis Jesu könnte über die Gleichnisse in den synoptischen Evangelien gelingen. Wenn man diese Texte nicht aus ihrem Kontext herauslöst, sondern sie als Kommunikationsvorgänge zwischen Jesus und seinen Hörern begreift, dann erschließen sie sich als heilendes Wort in eine ganz konkrete Fragesituation hinein. Christoph Kähler hat an einzelnen Elementen des kommunikativen Geschehens der Gleichniserzählung dessen „therapeutische“ Momente herausgearbeitet.18 Natürlich ist bei dem Begriff „Therapie“ nicht an gegenwärtige professionelle therapeutische settings zu denken. Aber die Gleichnisse verfolgen doch einen „lebensorientierenden Zweck“, sie nehmen typische „Lebensängste“ auf (Ungerechtigkeit, Verlust, Schuld, Wucher, Trennung, Verlorenheit des „Kleinen“ u.a.), und sie fordern unter dem Medium bildhafter Rede die Hörer dazu heraus, „den Anfangsimpuls Jesu aufzunehmen“19. Darin gewinnt das kommunikative Handeln im Kontext der Gleichnisrede therapeutische und so auch seelsorgliche Qualität.
4. Auch in anderen Begegnungserzählungen Jesu sind deutlich die Strukturen eines seelsorglichen Kommunikationsprozesses erkennbar. Die Anzahl der in Frage kommenden Texte erweitert sich noch einmal, wenn man die seelsorgliche Kommunikation nicht auf ein Verbalgeschehen und nicht nur auf die Behandlung „seelischer“ Krisen eingrenzt. So ist hier besonders an die Krankenheilungen Jesu zu denken, in denen es eben nicht nur um Wunderberichte mit einem gewissen kerygmatischen Erbauungswert geht. Sie sind vielmehr zu interpretieren als ein interaktives Geschehen im Spannungsfeld von Wahrnehmung der Situation, Ernstnehmen des Leidens, Akzeptation der Person, Herausforderung zu eigenem Handeln und Heilserfahrung durch Zuspruch und Heilung. Das sind Grundelemente eines seelsorglichen Kommunikationsprozesses. So viel lässt sich mit Sicherheit sagen.
Aber es kann nicht darum gehen zu sagen: so und so hat Jesus Seelsorge geübt. Dafür wissen wir zu wenig, und wir müssten dann auch sehr viel genauer unterscheiden, auf welcher Ebene der Überlieferung (historischer Jesus, synoptische Tradition usw.) wir uns jeweils befinden. Aber wir können Kommunikationsstrukturen erkennen, die mit dem, was wir heute unter Seelsorge verstehen, eine Menge gemeinsam haben.20
5. Vermutlich sind die Briefe im Neuen Testament – vorab die des Paulus – die historisch zuverlässigste Dokumentation von geschehener Seelsorge im Urchristentum. Roland Gebauer hat dies durch detaillierte Nachzeichnung der kontextuellen Bedingungen für die paulinischen Briefe und die in ihnen zu beobachtenden Argumentationsstrukturen exegetisch untermauert.21 Die paulinische Form der Seelsorge ist sehr konkret und oft atemberaubend nah am Lebensnerv der Adressaten. Sie ist sehr stark gemeindebezogen, und sie ist eindeutig vom apostolischen Verkündigungsauftrag