Hintergrund besonders deutlich –: „Ich glaube, wir haben unsere Seele selbst und unser Leben als eine Leihgabe von Gott erhalten … Die Leihgabe also, die du ohne Zweifel bekommen hast, musst du unversehrt zurückerstatten.“28 Seelsorge kommt hier dem sehr nahe, was auch dem Ideal der christlichen Erziehung entspricht.29 Diese aber kann ebenso scheitern wie die Bemühung des Einzelnen, durch sittliches Handeln und asketische Lebensführung die Macht der Sünde zu überwinden. Die Gnadenlehre des Paulus mit dem Gedanken einer durch das Versöhnungswerk Jesu Christi erwirkten Vergebung hatte es indessen schwer, sich in der Alten Kirche wirksam durchzusetzen.
Ein Beispiel dafür ist der „Hirt des Hermas“30, eine apokryphe Apokalypse aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Den Hintergrund dieser Schrift bildet die Frage, ob es für diejenigen eine Rettung gibt, die nach der „ersten Buße“, also der Taufe und der durch sie zugeeigneten Vergebung, wieder in Sünde gefallen sind. Die Antwort lautet: Es gibt noch eine zweite, freilich allerletzte Chance zur Buße. Einmal noch kann der Mensch umkehren zu einer glaubensgemäßen christlichen Existenz. Das Leben des Christen aber muss nun in dem beständigen Versuch bestehen, dem Einfall des Teufels in das Alltagsleben zu widerstehen. Der Hinweis auf die Möglichkeit eines „Zu spät“ hat bei Hermas wohl vor allem pädagogische Bedeutung31 und gibt ihm die Möglichkeit, seine mild moralisierende christliche Sittenlehre den Lesern ans Herz zu legen. Was dabei über bestimmte Gemüts- und Seelenzustände gesagt wird, zeugt durchaus von seelsorglichem Einfühlungsvermögen. So heißt es etwa: „Wirf den Zweifel von dir und zweifle nie daran, ob du etwas von Gott erbitten sollst.“32 Nicht nur der „Zweifel“, auch der „Jähzorn“, die „falschen Begierden“ und nicht zuletzt die „Traurigkeit“ werden als „Tochter“ oder „Schwester“ des Teufels gesehen.33 Damit werden diese glaubens- und lebensfeindlichen Regungen des Menschen in eine Distanz gebracht, die die Freiheit des Einzelnen für eine Auseinandersetzung mit ihnen erhöht.
Sehr viel direkter, wohl auch realitätsnäher, nämlich als Kampf gegen das Böse und zuweilen auch Dämonische, geschieht Seelsorge bei den Wüstenvätern und Wüstenmüttern des vierten und fünften Jahrhunderts34. Die Wüste ist „Ort der größten Wirksamkeit diabolischer Gewalten“, aber auch „Ort der erfahrbaren Nähe Gottes“35. Der Einzelne ist dem Bösen ausgeliefert und der Kampf dagegen erfordert alle Kräfte. Die Menschen, die zu Tausenden in die Wüste aufbrachen, um eine alternative spirituelle Existenz zu begründen und so wahre Erlösung zu erlangen, fanden offensichtlich in der Kirche und bei den Sakramenten nicht die Gewissheit, die sie brauchten und nicht die Wegweisung, die sie suchten36. Von den Vätern in der Wüste lernten sie, dass einzig die Nachfolge und eine echte Bußgesinnung ihnen Rettung verspreche. So lehrt Antonius, Prototyp des anachoretischen Mönchtums: „Das ist die größte Tat des Menschen: er kann seinen Fall über sich hinaus vor das Angesicht Gottes werfen. Im übrigen rechne er mit Versuchung bis zum letzten Atemzug.“37 Die seelsorgliche Weisung der Väter war diagnostisch klar, oft scharf konfrontierend, aber nicht entblößend, stets ermutigend38. Es handelte sich hier um eine sehr existenzbezogene Seelsorge. Ihre personale Voraussetzung bildeten die Aufrichtigkeit und das unbedingte Vertrauen39. Ihr außerordentlicher Ort wurde zu einer Art „Gegenwelt“, in der die konkreten Probleme des alltäglichen Kampfes besprechbar wurden und tragfähiger Glaube wachsen konnte.
Bei den Wüstenvätern und Wüstenmüttern rückte der Einzelne in den Blickpunkt. Auch wenn aszetische Ideale im Spiel waren, die uns heute fremd sein mögen, so ist doch festzuhalten: Hier ereignete sich eine Seelsorge, die in die Tiefe ging40, die innere Anfechtungserfahrungen kannte und die darum wusste, dass allein Wahrhaftigkeit den Weg zur Freiheit und damit zur Heilung und Rettung der Seele bereiten konnte.
Dort wo die Seelsorge in die Tiefe geht, wird auch deutlich, dass eine Heilung nur möglich ist bei gleichzeitiger Bereitschaft zu radikalkritischer Selbstwahrnehmung. Solche Introspektion ist die Voraussetzung, um die Sünden zu erkennen, die Leidenschaften wahrzunehmen, sich der guten und bösen Regungen des Herzens bewusst zu werden. Seelsorge hat es oft auch mit dem zu tun, was unter der Oberfläche verborgen ist und was nur behutsam in das Licht des Bewusstseins gebracht werden kann. „Abbas Poimen sprach: Lehre deinen Mund sprechen, was in deinem Herzen ist.“41
Gerade die Bereitschaft zur Introspektion ist etwas, das auch sonst in der seelsorglichen Tradition der Alten Kirche gefordert wird. Der Origenes-Schüler Gregorios Thaumaturgos schreibt beispielsweise: „Dadurch vor allem, dass unsere Seele ihre Unordnung erkennt, vermag sie sich daran emporzuarbeiten… Zuerst muss sie sich selbst wie in einem Spiegel beschauen: die Uranfänge und Wurzeln des Bösen, all ihr unvernünftiges Wesen … aber auch alles, was den besseren Teil unseres Wesens ausmacht, die Vernunft.“42 In dieser – gewiss viel vernunftoptimistischeren Sichtweise als bei den Wüstenvätern – fungiert Introspektion im Dienste der Seelenerziehung und Seelenbildung.
In der monastischen Tradition – vor allem des Westens – gerät dann Introspektion stärker unter die Vorstellung einer kontrollierten Seelenführung, bei der auch das methodische Element eine wichtige Rolle spielt. Johannes Cassian (gest. um 435) hat das Modell dafür entwickelt. In seinen Mönchsregeln wird die intensive Selbstprüfung und Selbsterforschung dem einzelnen Mönch zur strengen Pflicht gemacht. Die Schäden und Laster der Seele müssen deutlich erkannt und benannt werden, damit sie überwunden werden können. Der Weg zur Wahrheit wird nun zu einer von Misstrauen geprägten Selbstkontrolle und zur Suche nach den Schlupflöchern des Bösen in den Winkeln des menschlichen Herzens. Es geht um Selbstenthüllung – und zwar in der Form der exagoreusis, die im Unterschied zur exomologesis, dem öffentlichen Sündenbekenntnis, zu einer selbstzwecklichen geistlichen Gehorsamsleistung im Dienste permanenter Kontrolle wird. „Sie erheischt die unablässige analytische Verbalisierung von Gedanken im Zeichen des absoluten Gehorsams.“43
Zwischen der Seelsorgetradition der Wüstenväter und dem Regelwerk Cassians liegen ganze Welten. Da spielt schon der Gegensatz von Osten und Westen hinein. Aber vor allem haben wir hier den Unterschied zwischen einer charismatischen Seelsorge, die stets die konkrete Einzelbegegnung im Blick hat, und einer regulativen Seelsorge, die bestimmte seelsorgliche Techniken zum Zwecke der Selbstveränderung institutionalisieren und für den besonderen Bereich des monastischen Lebens verbindlich machen möchte. Und in gewisser Weise deutet sich – trotz der zeitlichen Nähe – auch schon der Überschritt zur Seelsorgepraxis der mittelalterlichen Reichskirche im Zeichen von Buße und angeleiteter Selbsterforschung an.
2.2.2Seelsorge als Beichte (Mittelalter)
Länger als ein Jahrtausend hindurch war die Seelsorge der Kirchen entscheidend geprägt von der Institution der Beichte im Rahmen des Bußsakraments. Dabei verbergen sich unter dem Begriff „Beichte“ natürlich sehr verschiedene Vollzugsformen geistlicher Praxis. Das Grundthema der bisherigen christlichen Seelsorge – nämlich die Auseinandersetzung mit dem das Seelenheil bedrohenden Phänomen der Sünde – bleibt unverändert in Geltung. Seine seelsorgliche Behandlung jedoch erfolgt nun in ungleich stärker institutionalisierter und formalisierter Weise, sodass schon die Frage aufkommen kann, inwieweit wir es hier wirklich mit einer Gestalt von „Seelsorge“ oder vielleicht doch eher mit Kirchenzucht zu tun haben. Diese Frage freilich ist kaum beantwortbar, und man muss sich aus der historischen Distanz und ohne gründliche Quellenrecherchen vor schnellen Bewertungen hüten. Das aber ist klar: Intentional ging es um seelsorgliches Handeln, mögen auch andere – z.B. kirchenzuchtliche – Motive ebenfalls eine Rolle gespielt haben.
Beginnen wir jedoch zunächst mit einigen Erinnerungen zur Entstehung und Entwicklung von Beichte und Bußsakrament.44 Ausgangspunkt war die seit der apostolischen Zeit anstehende Problematik einer Vergebungsmöglichkeit für die nach der Taufe begangenen Sünden. Während die rigoristischen Gruppen (Montanisten, Novatianer) eine zweite Buße strikt ablehnten, setzte sich in der Großkirche zunehmend eine mildere Bußpraxis durch. Dies geschah vor allem in Zusammenhang der Frage nach dem Umgang mit den unter dem Druck der Verfolgung abgefallenen Christen, den so genannten Lapsi. Eine Vergebung war dabei an die geistliche und jurisdiktionelle