Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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Luther für sich selbst immer wieder in Anspruch genommen. Und so empfiehlt er auch andern, aus der Nähe des Teufels in die Nähe von Menschen zu fliehen. –„…darum, so oft euch diese Anfechtung anfallen wird, hütet euch davor mit dem Teufel eine Disputation anzufangen … Die Einsamkeit fliehet auf jede Weise, denn er sucht euch gerade dann am liebsten zu erhaschen und abzufassen, wenn ihr allein seid… Und sooft euch der Teufel plagt, sucht auf der Stelle menschliche Gemeinschaft.“77

      •Schließlich: Seelsorge wird bei Luther entklerikalisiert. Seelsorge, durch die Entwicklung des Bußsakraments im Mittelalter so eng an die Person des Priesters gebunden, wird nun wieder zu einer Funktion der Gemeinde. Wenn es um die Frage geht, wer die Beichte hören und die Vergebung zusprechen darf, wird für Luther das, was er mit dem „Priestertum aller Gläubigen“ meint, konkret. Die Kraft zu binden und zu lösen (Mt. 18,18ff.), die ja nicht in priesterlicher Vollmacht, sondern im Erlösungswerk Christi begründet ist, ist allen Christen verliehen. „Wenn dich dein Gewissen peinigt, so gehe zu einem frommen Mann, klag ihm deine Not; vergibt er dir die, so sollst du es annehmen, er bedarf dazu keines Papstes Bullen.“78 Die christliche Bruderschaft ist der Ort einer Seelsorge, die Trost und Ermutigung vermittelt. In ihr ist „prinzipiell auch der Unterschied von Mann und Frau aufgehoben; selbstverständlich ist die Frau genauso dazu berechtigt, die Beichte eines Mitbruders zu hören und ihm Vergebung zuzusprechen wie ein Mann“ – schreibt Hans-Martin Barth unter Berufung auf WA 6, 547, 27ff.79 Denn der Glaube vollzieht das geistliche Amt. „Darum sind alle Christenmänner Pfarrer, alle Frauen Pfarrerinnen, es sei Jung oder Alt, Frau oder Magd, Gelehrt oder Laie.“80 Die Seelsorge ist für Luther vorrangig das Feld, auf dem sich geistliche Geschwisterschaft bewährt, was ja dann auch in den Schmalkaldischen Artikeln seinen Ausdruck gefunden hat in der klassischen Seelsorgeformel, wonach eine Form des Evangeliums sich ereigne „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“.81 Jürgen Henkys, der den Interpretationswegen dieser Formel nachgegangen ist, resümiert, nun auch über Luther hinausweisend: „Wo es um die gegenwärtige Tröstung geht, wird die Grenze zwischen Ordinierten und Laien fließend.“82

      Es ist eine ganz andere Frage, ob diese Position einer Laienseelsorge von Luther selbst und gar erst von den nachfolgenden lutherischen Kirchen dann praktisch auch gepflegt und gefördert wurde. Die Entwicklung einer Amtstheologie schon im 16. Jahrhundert hat die Idee des allgemeinen Priestertums und damit die Praxis einer Laienseelsorge wieder in den Hintergrund treten lassen.

      Ähnliche Fragen ergeben sich auch, wenn man die Fortentwicklung anderer Aspekte der lutherschen Seelsorgeauffassung in den Blick nimmt. Luther machte selbst schon Ende der zwanziger Jahre im Zusammenhang mit den Visitationsberichten die Erfahrung, dass eine verantwortliche Gemeinde- und Gottesdienstpraxis nicht möglich ist ohne erzieherische und auch kirchenzuchtliche Einwirkungen. So verband sich bald mit der Beichtpflicht das so genannte „Glaubensverhör“ als Überprüfung der Gemeindeglieder hinsichtlich ihrer Abendmahlsfähigkeit. Luther schreibt 1533 an die Frankfurter: „Wir wollen aus Christi Kirche nicht einen Saustall machen und einen jeden unverhört zum Sakrament wie die Säue zum Trog laufen lassen.“83 Es ist wohl so wie Werner Schütz schreibt: „Die großartige Freiheit von der menschlichen Satzung und kirchlichen Reglementierung weicht langsam wieder einem neuen Zwang, gesetzlicher Anordnung und geistlicher Bevormundung.“84 Damit deutet sich schon bei Luther selbst eine Entwicklung an, die dann für das Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts ziemlich bestimmend sein wird.85

      Hirtendienst als Metapher für die Seelsorgearbeit setzt unterschiedliche Sinngehalte frei. Es kann damit mehr „Fürsorge“ oder mehr „Aufsicht“ assoziiert werden, mitunter auch beides zugleich. Diese Kennzeichnung für die Seelsorge bei den Vätern des reformierten Zweiges der Reformation legt sich schon aus äußeren Gründen nahe. Zwinglis pastoraltheologische Hauptschrift von 1524 trägt den Titel „Der Hirt“ und Martin Bucer versteht seine ausführliche Darstellung „Von der waren Seelsorge“ (1538) als Auslegung des Hirtenwortes Ez 34, 16: „Ich will das Verlorene suchen und das Verirrte zurückbringen …“ Für das Verständnis der Seelsorge Zwinglis und Bucers ist es hilfreich, auf drei signifikante Unterschiede zur Seelsorgeauffassung Luthers hinzuweisen:

      •Luthers Seelsorge ist sehr stark von eigenen existenziellen Erfahrungen her geprägt, und mit ihr reagiert er vor allem auf die Not des geängsteten Gewissens. Zwingli und Bucer reagieren mit ihren Entwürfen zur Seelsorge auf je unterschiedliche Weise auf das Nachlassen der Kirchenbindung und Glaubenstreue bei den Gemeindegliedern.

      •Luthers Seelsorge schlägt sich vor allem in konkreten und relativ spontanen Reaktionen auf bestimmte Konfliktsituationen einzelner Betroffener nieder. Zwingli und Bucer haben sich auch und vor allem systematisch in den genannten Schriften dazu geäußert.86

      •Luthers Seelsorge ist auf dem Hintergrund seiner soteriologischen Grundanschauungen zu verstehen (also im Zusammenhang der Frage nach dem „gnädigen Gott“), während für die Seelsorgeauffassung von Zwingli und Bucer der ekklesiologische Denkzusammenhang bestimmend ist.

      Huldrych Zwinglis Schrift „Der Hirt“87 mag als „erste protestantische Darstellung der pfarramtlichen Seelsorge“88 angesehen werden. Seelsorge kommt im Zusammenhang der gesamten pastoralen Tätigkeit und besonders auch der Verkündigungsaufgabe in den Blick. Der Schwerpunkt der Seelsorge liegt auf dem „Bewahren und In-Ordnung-Halten“89. Das ist der rechte Hirtendienst, darüber zu wachen und dafür zu sorgen, dass „die gearzten Schäflein nicht wiederum in Krankheit verfallen“90. Um diese Aufgabe zu erfüllen sind verschiedene erzieherische Mittel notwendig, die in seelsorglicher, also differenzierender Weise anzuwenden sind: „Gerade wie der Hirte etliche Schafe schlägt, etliche mit der Hand, etliche mit dem Fuß vorwärts stößt, etliche mit Pfiffen treibt …, damit ihm die Schäflein gemehrt, sauber und gesund werden.“91 Hirtendienst ist für Zwingli Wächterdienst, und er hat sein Vorbild und Urbild in Jesus Christus selbst. Damit ist den Pfarrern eine hohe Aufgabe gestellt. Sie setzt voraus, dass die Hirten sich ihrer Verantwortung für die evangeliumsgemäße Verkündigung bewusst sind und ihres Amtes in Liebe und ohne Falsch walten.

      Hinter Martin Bucers Schrift von 153892 steht einerseits die Sorge angesichts des Nachlassens der ersten Liebe, also der Lockerung der Kirchenbindung bei vielen Gemeindegliedern, und andererseits die Trauer und der Zorn über die „jämmerliche und verderbliche Spaltung der Religion“, wie es im vollständigen Titel heißt.

      Bucer – darin mit allen anderen Reformatoren eines Sinnes – geht von der Glaubensgewissheit aus, dass Christus die Kirche regiert und letztlich selbst ihre Zukunft bestimmt. Dazu braucht Christus bestimmte Mittel und geeignete Diener, „durch die will er mich zu seinem Reich sammeln, mir die Sünde verzeihen, mich neu gebären, erhalten, lehren und einführen ins ewige Leben“93. Das ist das Hirtenamt mit all seinen unterschiedlichen Funktionen. Seelsorge vollzieht sich für Bucer vielfältig – als Predigt, im Gespräch, beim Hausbesuch oder auch im Zusammenhang kirchenzuchtlicher Maßnahmen. Das Hirtenamt setzt Hirten voraus mit „Ansehen, Furcht und Vorbild des Lebens“, ausgestattet mit „vornehmen Gaben und Geschicklichkeiten neben dem aller ernsten Eifer zur rechten Leitung des Hirtenamtes“. Und das Ziel des Hirtendienstes ist vor allem „der Erwählten Besserung“94.Von „Besserung“ spricht Bucer im Zusammenhang der Seelsorge oft und gern. Konkret bedeutet das: Es geht in der Seelsorge darum, die Gemeindeglieder in der Gemeinde zu erhalten oder sie dahin zurückzuführen. Die Kirchenbeziehung ist der eigentliche und primäre Focus der bucerschen Seelsorge. Dabei empfiehlt er den Seelsorgern, ihren Dienst adressatenspezifisch auszuführen – je nachdem, wie nah oder fern der Kirche die einzelnen Gemeindeglieder stehen. Bucer unterscheidet in Anlehnung an Ez 34,16 fünf verschiedene Typen von Kirchenzugehörigkeit 95: die verlorenen Schafe, die der Kirche Entfremdeten (obwohl noch zu ihr Gehörenden), die Sünder in der Gemeinde, die Glaubensschwachen und die wahren Christen.

      Je nachdem hat der Hirtendienst nun eher missionarisch-suchende, zur Buße