pars pro toto herauszugreifen. Jetzt bestehen nebeneinander: einerseits die vermittlungstheologische Seelsorgelehre, der es um eine „wissenschaftliche Seelenpflege“ (Nitzsch) zu tun ist, andererseits eine konservativlutherische Poimenik, die in ihrer stark sakramental ausgeprägten Form bei Löhe besonders die Beichtpraxis in den Mittelpunkt stellt, und schließlich die den Strom der Erweckungstheologie aufnehmende „charismatische“ Seelsorge mit ihrer Ausrichtung auf einen ganzheitlichen Heilungsvorgang, wie sie uns bei den beiden Blumhardts begegnet. Die Vielfalt der poimenischen Positionen ist nur schwer übersehbar. Die Seelsorge hatte im 19. Jahrhundert in der praktisch-theologischen Theoriebildung offensichtlich eine Schwerpunktbedeutung.128 Infolge der Pluralität poimenischer Konzepte ist es verführerisch, die Poimenik des 19. Jahrhunderts als eine Art Steinbruch zu benutzen, um in die jeweilige eigene Position noch ein paar wichtige Steine als Legitimationshilfe einzubauen.
Zur Charakterisierung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert seien nun drei Momente exemplarisch hervorgehoben:
1. Grundlegend und wegen ihrer Klarheit besonders eindrucksvoll ist die Auffassung von der Seelsorge bei Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.129 Für ihn gehört die Seelsorge in die Zuständigkeit des „Kirchendienstes“130, also der auf den Einzelnen gerichteten Tätigkeiten. Vorausgesetzt wird von Schleiermacher, dass gemäß dem evangelischen Glauben die Gemeindeglieder grundsätzlich „selbst ihr Gewissen aus dem göttlichen Wort berathen können“131. Das ist die Freiheit jedes Christen. Sie gründet in seinem unmittelbaren Verhältnis zum Wort Gottes; und dieses genüge normalerweise für seine Gewissheit und für seine Orientierung. Eine Seelsorgepflicht könne es mithin nicht geben. Wenn allerdings bei dem einzelnen Gemeindeglied ein Seelsorgebedürfnis entstehe, sei es die unbedingte Pflicht des Pfarrers, dem zu entsprechen. Die Anforderung an den Seelsorger ist für Schleiermacher ein Anzeichen dafür, dass dem Gemeindeglied das Vertrauen in die unmittelbare Führung durch Gottes Wort und damit auch seine Identität mit der Gemeinde verloren gegangen ist. Der Seelsorger habe darum „solche Anforderung … dazu zu benutzen, die geistige Freiheit des Gemeindegliedes zu erhöhen und ihm eine solche Klarheit zu geben, dass jene Anforderung nicht mehr in ihm entstehe.“132Das ist der „Kanon“ für die seelsorgliche Arbeit in der evangelischen Kirche. Für Schleiermacher ist also die Wahrung und Förderung der Freiheit des Gemeindeglieds der oberste Grundsatz der Seelsorgelehre. Seelsorge ist damit – so würden wir heute sagen – in der Tendenz immer Hilfe zur Selbsthilfe. In keiner Weise darf Seelsorge zu Abhängigkeit oder in ein geistliches Vormundschaftsverhältnis führen. Es verwundert nicht, dass Beichte und Buße gegenüber dem Gespräch bei Schleiermacher zurücktreten.133 Ein seelsorglicher Dirigismus schade dem Anliegen der Seelsorge. Beim Seelsorger wird deshalb die Fähigkeit vorausgesetzt, „unbefangen“ und bereit zu sein, „in die verschiedenen Sinnesarten einzugehen“134, also sich einzufühlen. Das ist die Bedingung, um den anderen in seiner besonderen Persönlichkeit wahrnehmen und bestärken zu können135 – was freilich nicht im individualistischen Sinne zu verstehen ist, denn die Wiedererlangung der Freiheit und des Vertrauens hat ihren Sinn darin, dass der Einzelne nun wieder in die Gemeinschaft zurückfinden kann, aus der er „herausgefallen“ war.
Eindrucksvoll an Schleiermachers Seelsorgeverständnis ist die Verknüpfung von aufklärerischem Freiheitsbewusstsein mit dem Freiheitsverständnis des Evangeliums. Im Kern argumentiert Schleiermacher als Theologe. Problematisch erscheint das von ihm bevorzugte „Defizienzmodell“136, wonach jedes Seelsorgebedürfnis als Ausdruck für einen geistlichen Mangel interpretiert wird, und daraus folgend umgekehrt erst ein entsprechender Mangel vorhanden sein müsse, um Seelsorge zu indizieren.
2. Im Anschluss an Schleiermacher entwickelt sich im neunzehnten Jahrhundert die wissenschaftliche Seelsorgelehre. Beispielhaft sei hier die 1857 erschienene Seelsorgetheorie von Carl Immanuel Nitzsch137 erwähnt. Die Seelsorge ist für Nitzsch „die amtliche Tätigkeit der Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung und Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist“138. Um die Aufgabe auch angemessen erfüllen zu können, müsse man sich darüber im Klaren sein, dass es in der Seelsorge um ein ganz persönliches Verhältnis gehe. Es käme also auf die Beachtung der „persönlichen Zustände und Bedürfnisse“ des Gemeindegliedes ebenso an, wie auch der ganz „persönliche Eindruck des Seelsorgers“ zu Buche schlage. Die Persönlichkeit des Seelsorgers spielt mithin für Nitzsch eine ebenso wichtige Rolle wie die spezifischen Kompetenzen, die er als „diagnostische Fähigkeit“ einerseits und als „therapeutische Tüchtigkeit“ andererseits definiert. Erstere beziehe sich vor allem auf die „Menschen-Kenntniß“: „dass er sich auf das menschliche Herz und Wesen nach dem Maße unserer Beschränktheit recht gründlich verstehe“139. Letztere hat etwas zu tun mit der Vermittlung von „Heil“ und „Segen“. Diese kommen zwar wohl „vom Herrn“ selbst, aber sie fallen doch „der Arbeit und Mühe seiner Diener nach seinem Wohlgefallen zu“140.
Im Anschluss an Reinhard Schmidt-Rost lassen sich drei Aspekte für die spezifische Ausrichtung der wissenschaftlichen Poimenik, wie sie uns bei Nitzsch begegnet und zugleich über ihn hinausweist in die künftige Entwicklung, benennen:
a.Sie bezieht sich ganz auf ein Handeln am Einzelnen.
b.Sie vollzieht sich im Bewusstsein christlicher Weltverantwortung und mit einer Realitätsorientierung auf das „Machbare“.
c Sie macht auf Dauer eine professionelle Ausprägung der seelsorglichen Berufsrolle erforderlich.141
Bei Nitzsch deutet sich also ein Weg an, der zu einer einschneidenden Veränderung im pastoralen Berufsverständnis führt. Das Leitbild ist nun bald nicht mehr der Gemeindehirte im Sinne der herkömmlichen Pastoraltheologie, sondern der „Seelenarzt“142 Vor allem gehört zu dieser neuen Weise, über Seelsorge nachzudenken, eine konsequente und kritisch reflektierte Einbeziehung humanwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden. Die sich entwickelnde Seelsorgelehre kann immer weniger auf qualifizierte Übernahmen aus Anthropologie und Psychologie verzichten.
3. Die Entwicklung der Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert wird nicht unwesentlich beeinflusst durch den immer deutlicher spürbaren Säkularisierungsprozess. In ihm lassen sich einerseits die Nachwirkungen der kulturellen Aufklärung erkennen, wie er andererseits auch im Zusammenhang mit Industrialisierung und neuer sozialer Differenzierung verstanden werden muss. Man kann geradezu von einem „Massenexodus aus der Kirche“143 sprechen, der sich zwar nicht in einer formellen Austrittsbewegung, dafür aber in einer inneren Ferne zu dem verfassten Christentum und praktischer Teilnahmeverweigerung gegenüber den kirchlichen Angeboten äußert. Carl Immanuel Nitzsch sah darum ein Erfordernis, den „seelsorgerischen Eifer“ zu verstärken, um das „Verlorene zu suchen“, und er zog daraus die Konsequenz: „…mit einem Wort, die Zeit für die innere Mission in der engeren Bedeutung ist für einen gewissen Kreis des kirchlichen, christlichen Lebens angebrochen“144. So kommt dann das seelsorgliche Handeln wieder sehr nah an die Wahrnehmung des missionarischen Auftrags heran.145 Was sich bei Nitzsch hier andeutet, das liegt ganz auf der Linie des durch Johann Hinrich Wichern 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag ins Leben gerufenen Werkes der Inneren Mission. Später hat Wichern gerade den seelsorglichen Aspekt des diakonischen Handelns sehr eindrücklich formuliert: „Kommen die Leute nicht in die Kirche, so muss die Kirche zu den Leuten kommen … Wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in den großen Städten. Die Straßen müssen Kanzeln werden, und das Evangelium muss wieder zum Volk dringen.“ Nun wird deutlich: Die Seelsorge hat nur dann eine Chance, wenn die Kirche sich auf die Menschen zu bewegt und wenn sie zugleich aufmerksam wird für die ökonomische und soziale Not auf den Straßen und in den Häusern. Der Dresdner Pfarrer Emil Sulze hat diese Herausforderung unter den Bedingungen einer immer anonymer werdenden Großstadtparochie erkannt und angenommen. Er versuchte mit seinem gegliederten Gemeindestrukturmodell146 die organisatorische Grundlage für eine gemeindliche Seelsorgearbeit zu schaffen, die die Menschen nicht nur mit Reden und Ritualen abspeiste. Seelsorge ist für Sulze Präsenz am Ort und Zusammenführung geistlicher, sozialer und pädagogischer Kompetenz. Um die immensen Aufgaben der Seelsorge in der Großgemeinde zu bewältigen, genüge es freilich nicht, allein auf die Kapazität der bestallten Pfarrer