Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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einer theologisch verantwortlich ausgeübten Seelsorge und Beichtpraxis, nicht mehr in ihrer ursprünglichen Klarheit gegenwärtig war und das Leben und Denken der mittelalterlichen Kirche nicht mehr deutlich genug prägte.

      Es ist nicht einfach, die Bedeutung Luthers für die Entwicklung des Seelsorgeverständnisses auf einen Begriff zu bringen. Das Wort „Trost“ wird heute leicht missverstanden, nicht selten gebraucht man es mit einem ironischen Unterton. Wenn wir hier das Wort „Trost“ zur Charakterisierung des besonderen Anliegens der Seelsorge Luthers verwenden, dann ist das nicht in dem gewissen erbaulichen Sinne gemeint, der sich uns mit einer Inszenierung pastoraler Freundlichkeit verbindet. Auch soll Luthers Seelsorge hier nicht primär von einzelnen „Fällen“ her charakterisiert werden, in denen der Reformator auf ein jeweils aktuelles Trostbedürfnis reagiert hat und von denen besonders seine reiche Korrespondenz ein eindrucksvolles Zeugnis gibt.60 Hier soll mit dem Begriff „Trost“61 die sich aus Luthers evangelischer Basiserfahrung ergebende primäre Intention von Seelsorge verstanden werden. Seelsorge ist für Luther nicht nur eine pastorale Aufgabe unter anderen, sondern sie ist im Kern die Theologie selbst. Mit Christian Möller zu sprechen: Seelsorge ist eine „Grunddimension in Martin Luthers Leben und Werk“62.

      Die Seelsorgeauffassung Luthers muss auf dem Hintergrund der mittelalterlichen Bußpraxis und seiner Auseinandersetzung mit ihr verstanden werden. Diese hat ihn aufs tiefste beunruhigt, weil sie ihn mit ethischen und religiösen Forderungen konfrontierte, deren Erfüllung das skrupulöse Gewissen des Augustinermönches für aussichtslos hielt. Wie sollte er vor Gott Gnade erlangen und damit für seine Seele Heil gewinnen können? Im Rückblick hat Luther diese Erfahrung von Verlorenheit vielfach zum Ausdruck gebracht: „… die Angst mich zu verzweifeln trieb, dass nichts denn Sterben bei mir blieb, zur Hölle musst ich sinken.“63 Es war die Angst, es Gott nicht und niemals recht machen zu können und deshalb als Mensch vor ihm nicht recht sein zu können, selbst wenn man alle Kräfte zusammennähme und alle „Werke des Gesetzes“ zu erfüllen sich bemühte. In diese Anfechtungssituation hinein wurde Luther über dem Studium der Schrift, vor allem des Römerbriefes (Röm 1,17) die reformatorische Erkenntnis zuteil, dass nicht das, was der Mensch selber vermag und leistet, sondern das, was für ihn getan wird, und zwar von Gott her getan wird, das Tor zum Leben eröffnet. Dass Luther zu dieser Erkenntnis durchdringen konnte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er in Johannes von Staupitz einen geistlichen Begleiter gefunden hatte, durch den ihm „erstmals das Licht des Evangeliums“ aufgestrahlt sei.64 Am Ende seines Lebens – in der Vorrede zur Ausgabe seiner lateinischen Schriften von 1545 – beschreibt Luther die entscheidende Durchbruchserfahrung so: „Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als solche zu begreifen, durch die der Gerechte durch Gottes Gerechtigkeit lebt, d.h. also aus Glauben“65.

      Was Luther hier zunächst biographisch erfahren hat, muss für die Seelsorgegeschichte als eine Art Perspektivwechsel verstanden werden. Nicht der defizitäre Mensch mit seiner Fähigkeit zu Reue und Buße steht als Akteur perspektivisch im Blick, sondern der schenkende und vergebende Gott in Jesus Christus.66 Dieser Perspektivwechsel begründet den Trostcharakter der Seelsorge: Luther schildert in den bekannten und bewegenden Worten, was ihm die neue Einsicht bedeutet: „Nun fühlte ich mich ganz und gar neu geboren. Die Tore haben sich mir aufgetan. Ich war in das Paradies selber eingegangen.“67 Und in einer späteren Predigt preist er in der Plerophorie des Glaubens die für Christen überwältigende Gnadenerfahrung: „Er überschüttet also seine Christen noch viel reichlicher und decket ihnen mit Vergebung der Sünden alle Winkel voll, auf dass sie nicht allein in der Gemeinde Vergebung der Sünden finden sollen, sondern auch daheim im Hause, auf dem Felde, im Garten, und wo einer nur zum andern kommt, da soll er Trost und Rettung haben.“68

      Mit der umfassenden Vergebungserfahrung, die aus dem Glauben kommt und zugleich auf ihn hinführt, sind Beichte und Buße nicht gegenstandslos geworden. Luther hält an der Beichte fest. Aber, wie gesagt, die Perspektive ist nun anders:

      Nicht das Sündenbekenntnis in der Beichte ist Voraussetzung für Glaube und Vergebung, sondern umgekehrt: der Glaube, von Gott geliebt und gerechtfertigt zu sein, wird zum „Ermöglichungsgrund einer wirksamen Buße“69. Die Beichte wird nun insofern zu einem wichtigen Aspekt von Seelsorge, weil sie hilft, auf dem Hintergrund des Glaubens die Realität des eigenen Lebens ungeschönt wahrzunehmen. Sie kann auf die Vergebung hinführen, aber sie ist nicht mehr deren meritorische Voraussetzung. Sie erspart dem Gerechtfertigten nicht die immer wieder mögliche Anfechtungserfahrung. Aber unter dem Vorzeichen des Evangeliums führt sie nicht mehr in dauerhafte Angst und Verzweiflung, sondern öffnet die Tür für die Erfahrung von Trost und neuer Gewissheit.

      Drei besondere Aspekte, die sich aus dem Grundansatz ergeben, seien nun für die Seelsorgelehre Luthers noch hervorgehoben:

      •Zunächst: Seelsorge ist für Luther nicht eigentlich menschliches Werk, sondern Gottes Tat. Gerhard Ebeling formuliert die „trinitarische Grundstruktur“ der Seelsorge Luthers ganz prägnant: „Luthers Seelsorge beruft sich auf das Dasein Gottes, das Verbundensein mit Christus und das Zuhausesein im Worte Gottes.“70 An den einzelnen Seelsorgeaktivitäten Luthers – vor allem anhand seiner Briefe – lässt sich das unschwer konkretisieren. Noch als Distriktsvikar des Augustinerordens schreibt Luther 1516 den für sein Seelsorgeverständnis „richtungweisenden Kernsatz“: „Wer statt demütig um Leitung durch Gottes Wort zu bitten, so vermessen ist, sich selbst, geschweige andere nach eigenem Rat zu leiten, der irrt.“71 Seelsorge, die ihrer Aufgabe gerecht werden soll, lässt sie als Gottes Werk geschehen gemäß Luthers Grundsatz: „Wir sollen nichts ohne ihn, aber er will alles ohne uns und doch in uns tun.“72 Das ist keine Ermunterung zu seelsorglicher Passivität, es begründet eher die Freiheit der Seelsorgerinnen und Seelsorger. Nicht ich bin letztlich für mein und anderer Seelenheil verantwortlich. Seelsorge ist Dienst in Gottes Auftrag. Ich vermag nichts, was Er nicht will.

      •Zum andern: Luthers Seelsorge ist in hohem Maße realitätsbezogen. Und das heißt vor allem: Luther rechnet mit der Macht des Bösen. Auch wenn die grundlegende Gnadenerfahrung den bestimmenden Tenor bildet, ist damit die Wirksamkeit des Teufels noch nicht einfach erledigt. Der Satan, der „alt böse Feind“, ist für Luther nicht das Produkt metaphysischer Spekulationen. Er ist, wiewohl durch Christus besiegt, doch noch sehr konkret und direkt am Werk. Er kann vor allem die Seele in immer neue Ungewissheiten stürzen: „Das ist des Teufels größte Kunst, dass er uns den Artikel von der Rechtfertigung, wie man vor Gott soll gerecht und selig werden, nehme und verfälsche. Er kann uns fein vorwerfen und mit dem Gedanken plagen: Ja, wahrlich ihr predigt das Evangelium. Wer hats aber geheißen? Wer hat euch berufen?“ Man müsse schon seines Glaubens sehr gewiss sein, um dem Teufel nicht zu verfallen; denn dieser „kann sich in einen schönen weißen Engel verkehren, obwohl er doch ein rechter schwarzer Teufel ist, und er kann sich sogar für Gott ausgeben.“73 Luther redet auch in ganz konkreten Seelsorgezusammenhängen vom Teufel, für den er viele Namen hat. Er objektiviert damit das, was den Glauben schwächt und die Hoffnung zunichte macht. Solche Objektivierung schafft Distanz zum Bösen und vermindert das Gefühl eines ohnmächtigen Ausgeliefertseins. So spricht Luther vom Teufel und vom Satan, aber auch von den Anfechtungen und den Sorgen in personhafter Weise. So wird das Böse dingfest gemacht. So wird es bekämpfbar, so kann man dagegen anbeten. Luther hat dies nicht zuletzt auch für sich persönlich immer wieder erfahren. „Mein Satan ist dank eurem Beten mir um einiges erträglicher“, schreibt er 1528 an Wenzeslaus Link in einer Phase besonderen Angefochtenseins.74 Und im gleichen Zusammenhang kann er Melanchthon gegenüber äußern: „Meine Anfechtung hat mich heute besucht, bete, so bitte ich, für mich wie ich für dich, damit mein Glaube in diesem Geschütteltwerden nicht nachlasse.“75 Welch ein Maß an Bewusstheit, an Leiden, an Auseinandersetzungsbereitschaft und nicht zuletzt auch an Humor spricht aus diesen kurzen Bemerkungen! Luther wagt es, eben auf dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen, dem von Suizidgedanken geplagten Jonas von Stockhausen zu empfehlen, seinen Teufel einfach zu verspotten: „wohlan, Teufel, lass mich ungehindert, ich kann