Jürgen Ziemer

Seelsorgelehre


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„Daneben aber werden sie auch die Kirchenzucht und Seelenarznei, welche die Diener des geistlichen Bindens und Lösens verrichten sollen, mit höchstem Fleiß fordern.“96

      Auch die „gesunden, starken Schafe“ sind dem Hirtendienst anbefohlen. Hier gilt es zu festigen und zur Teilnahme an den „heiligen Kirchenübungen“ anzureizen. Vom „Geist Christi“ heißt es in Bezug auf diese Gruppe – und es scheint so, als wäre dies auch indirekt ein Modell für die visitatio domestica: „dass er seine Schüler in alle Wahrheit führet. Darum luget er auch von Haus zu Haus, von Mensch zu Mensch, wie seine Lektionen der öffentlichen gemeinen Predigten aufgenommen werden, wie sie bei jedem verfange, behöret sein Schüler, siehet, was sie begriffen haben oder nicht. Also hat ers in seiner Kirche allwegs gehalten; und wem das nicht gefällt und (wer) das nicht in Übung zu bringen begehrt, der will nicht, dass der h. Geist seine Kirche recht lehrt …“97.

      Insgesamt gesehen haben wir es bei Bucer mit einer eindrucksvollen Seelsorgetheorie zu tun, einem geschlossenen poimenischen Gesamtentwurf. Ein gewisser erzieherischer Impetus ist dieser Seelsorgelehre unverkennbar eigen. Die einseitige Betonung des ekklesiologischen Aspektes führt dazu, dass andere Konfliktfelder und Krisenerfahrungen des individuellen Lebens praktisch aus dem Blick geraten. Für den modernen Leser Bucers ist überraschend, wie die präzisen Beschreibungen der verschiedene Entfremdungserfahrungen in Kirche und Gesellschaft immer wieder Assoziationen zu unseren Gegenwartserfahrungen freisetzen.

      Auch in einer nur exemplarischen Skizze der Seelsorgegeschichte darf der Name von Johannes Calvin natürlich nicht fehlen. Der enge Zusammenhang von Seelsorge und Ekklesiologie ist aber auch für ihn evident. Und die kirchenzuchtlichen Seiten des Hirtendienstes sind bei ihm besonders deutlich ausgeprägt, freilich keineswegs in dem Maße, wie manches Vorurteil es gerne wahrhaben möchte. In gewisser Weise mag Calvin als der engagierteste Seelsorger der Schweizer Reformation angesehen werden. Calvins Seelsorge muss einerseits in ganz enger Verknüpfung mit seiner stark seelsorglich ausgerichteten Predigttätigkeit gesehen werden. Denn seine Predigten kreisen „um die Ehre Gottes und um die Ruhe des Gewissens“98. Andererseits gibt es einen festen Zusammenhang der Seelsorge mit der praktischen Arbeit des Reformators beim Gemeindeaufbau in Straßburg und Genf.99

      Für die ganz praktische Seite von Calvins Seelsorgetätigkeit sind dann natürlich auch seine Briefe heranzuziehen. Es hat sie geschrieben an hoch gestellte und politisch einflussreiche Personen ebenso wie an einfache Gemeindeglieder in Notlagen, an Verfolgte, an ganze Gemeinden und an einzelne Pfarrer.100

      Seelsorgliche Tiefe und kirchenzuchtliche Strenge – das sind charakteristische Merkmale der Seelsorge Calvins.

      Der Pietismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war die erste große Erneuerungsbewegung innerhalb des deutschen Protestantismus nach der Reformation. Im Lichte der pietistischen Grundanschauungen – und das entspricht oft auch heutiger Sicht – erschien die lutherische Orthodoxie als eine Zeit geistlicher Dürre, kirchenrechtlicher Verkrustungen und religiöser Erstarrung. Dass dies so generell keineswegs zutreffend ist, wird durch die Beobachtung belegt, dass die Zeit der Orthodoxie auch eine Phase intensiver Frömmigkeitspraxis ist. Man denke an die Andachts- und Gebetsbücher aus dieser Zeit, an die vielen— gerade auch die persönliche Frömmigkeit ansprechenden – Gesangbuchlieder (Paul Gerhardt!) und an die geistlichen Trosthilfen für Krisenzeiten.101

      Es scheint jedoch so, als hatte die lutherische Frömmigkeit dieser Zeit ihre Prägekraft für die großen Massen der Gemeindeglieder verloren. Und sie hatte es offensichtlich auch nicht zu Wege gebracht, in den Gemeinden einen stabilen Kern derer zu bilden, „die mit Ernst Christen sein wollen“ (Luther). Hier setzt der Pietismus ein. Es geht ihm um ein ernsthaftes, auf Erfahrung fußendes Christentum, das sich von der Masse der „Scheinchristen“ unterscheidet und wahre Früchte des Glaubens hervorbringt. Die pietistische Frömmigkeit zeichnet sich aus durch eine intensive Bibelorientierung und eine lebendige Christusbeziehung. Im Einzelnen ist der Pietismus natürlich sehr unterschiedlich geprägt. Die drei herausragenden Führungsgestalten – Spener102, Francke103, Zinzendorf104, – unterscheiden sich schon in den äußeren Rahmenbedingungen ihrer Wirksamkeit und so auch in den spezifischen Intentionen ihrer Theologie. Zinzendorf etwa wendet sich nach anfänglicher Übereinstimmung später entschieden von der pietistischen Bekehrungstheologie mit dem für Francke eigentümlichen Bußzwang ab.105 Im Wissen um die Differenzierungen innerhalb des Pietismus sind für den seelsorgegeschichtlichen Zusammenhang einige Punkte hervorzuheben, die für die Grundauffassung der Seelsorge in dieser Phase charakteristisch sind:

      1.Jede stark veräußerlichte Form von Seelsorgepraxis wird abgelehnt. Für die Orthodoxie bestand diese vor allem in der Privatbeichte. Sie war wieder zu einem Zwangsinstitut geworden. Massenweise wurde die Beichte von den Pfarrern abgehört und es wurde Absolution erteilt, ohne dass damit eine ernsthafte Seelsorgearbeit verbunden werden konnte. Man holte sich im Beichtstuhl ein gutes Gewissen ab. Spener wollte die Privatbeichte nicht abschaffen, aber ihren oberflächlichen und zwangsweisen Gebrauch. Das routinierte Beichtehören ohne geistliche Vertiefung war ihm ein Gräuel. Und auch Francke wandte sich ausdrücklich gegen den „Missbrauch des Beichtstuhls“.106

      2.Seelsorge sollte sich zuerst auf die Kerngemeinde ausrichten. „Nicht von der Besserung der Unfrommen, sondern von der Förderung der Frommen erwartete Spener die Reform der Kirche.107 Der Seelsorge obliegt zuerst die Aufgabe der „Erbauung“, der „Stärkung des Glaubens“ bei dem einzelnen Gemeindeglied. Gegenüber einer pastoralen Massenabfertigung kam es im Pietismus – vor allem Spenerscher Prägung – zu einer seelsorglichen „Entdeckung des Einzelnen“108. „Erst von ihm her ist die Ausrichtung auf das ‚Ganze‘ möglich.“109

      3.Seelsorge geschieht im Pietismus bei aller Kritik an den traditionellen Institutionalisierungen dennoch bewusst methodisch. Für Spener bedeutet „Seelsorge als Erbauung“ ein „gezieltes, methodisch reflektiertes, differenziertes und planvolles Handeln“.110 Das seelsorgliche Gespräch wird hoch geschätzt und der – in der Zeit der Orthodoxie verpönte, teilweise sogar verbotene – Hausbesuch kam nun wieder zu seinem Recht. Der pietistische Seelsorger musste alle Möglichkeiten ergreifen, um seine primäre Aufgabe, die Stärkung und Festigung des Glaubens der Wiedergeborenen, zu erfüllen

      4.Seelsorge führt in die Gemeinschaft der Erweckten und vollzieht sich zu einem guten Teil auch in ihr selber. Trotz des Ansatzes der Seelsorge beim Einzelnen ist für Spener etwa das Ziel der Erbauung überindividuell. Die Glaubenden sollen geistliche Gemeinschaften bilden, die er „ecclesiolae in ecclesia“ nennt – gleichsam „Pilotprojekte der Erbauung“111. Besonders das Herrnhut Zinzendorfs ist bekannt für die vielfachen Formen geistlicher Gruppengemeinschaft.112 Zinzendorfs Satz „Der Christ geht in Kompagnie“ ist geradezu zum geflügelten Wort geworden. Die strenge Gruppenordnung in Herrnhut muss man sich nicht als Installation seelsorglicher Zwangsgemeinschaften vorstellen. Sie war vielmehr die Möglichkeit, die einfachen und komplizierten Fragen des alltäglichen Lebens in die geistliche Gemeinschaft hineinzunehmen.113

      5.Seelsorge im Pietismus ist Realisierung des allgemeinen Priestertums. Was Luther gewollt hatte, aber letztlich doch nicht durchsetzen konnte, das gewinnt hier nun praktische Wirksamkeit. Erbauung ist „Recht und Pflicht aller Christen“‚114. In den Gruppen und Gemeinschaften der wirklich gläubig gewordenen Gemeindeglieder findet nun das „mutuum colloqui um fratrum“, das wechselseitige geschwisterliche Gespräch bzw. eben die Seelsorge, wirklich statt. Für den Laientheologen Zinzendorf war die Idee der Geschwisterlichkeit für die Gemeinde und ihre Leitung ausgesprochen strukturbestimmend.

      6.Pietistische Seelsorge wendet sich zuerst an den inneren Menschen. Sie intendiert aber keine Privatisierung des Glaubens. Der Glaube soll Früchte tragen und Erbauung vollzieht sich nicht in frommer Selbstzwecklichkeit. So muss die Seelsorge beispielsweise in Zusammenhang gesehen werden mit dem sozialen und pädagogischen Werk, das von dem Halle Franckes