weitere Einblicke in die spezifischen lexikalischen Defizite des Kindes zu bekommen. So gibt es etwa im rezeptiven Teil des WWT 6-10 (Glück 2011a) neben dem Bild des Zielwortes jeweils ein Bild eines semantischen, eines phonologischen und eines unrelationierten Ablenkers. Wählt ein Kind häufig das Bild des semantischen Ablenkers, deutet dies auf eine Schwierigkeit bei der Differenzierung semantisch ähnlicher Einträge und somit auf Defizite auf der Wortbedeutungsebene hin. Zeigt das Kind hingegen häufig die phonologischen Ablenkerbilder, spricht dies eher für ein Defizit bei der Differenzierung ähnlicher phonologischer Repräsentationen, also einem Störungsschwerpunkt auf Wortform ebene (Glück 2011a).
Benennkonsistenz Eine weitere Möglichkeit, sich dem individuellen Störungsschwerpunkt eines Kindes zu nähern, ist die Bestimmung der Benennkonsistenz. Wie bereits ausgeführt (Kap. 2), ist das fluktuierende Gelingen des Wortabrufs das zentrale Leitsymptom der kindlichen Wortfindungsstörung (Siegmüller 2005). Wortfindungsgestörte Kinder zeigen demnach inkonsistente Benennleistungen. Um die Konsistenz der Benennleistung zu ermitteln, kann der bereits durchgeführte aktive Wortschatztest nochmals durchgeführt werden, so dass anschließend die Benennleistungen aus dem ersten und dem zweiten Durchgang miteinander verglichen werden können. Inkonsistentes Benennen liegt immer dann vor, wenn das Kind ein Wort in einem Durchgang korrekt abrufen und benennen konnte, im anderen Durchgang jedoch nicht. Als „Faustregel“ hat sich mittlerweile durchgesetzt, dass von einer auffälligen, inkonsistenten Benennleistung gesprochen wird, wenn die Inkonsistenzrate mindestens 10 % beträgt (Beier 2013).
Profit von Abrufhilfen Entscheidet man sich für eine Bestimmung der Benennkonsistenz, bietet es sich an, bei der zweiten Durchführung des aktiven Wortschatztests auch Abrufhilfen zu den Wörtern zu geben, die das Kind nicht benennen kann. Diese sollten stets in der gleichen Abfolge von der schwächsten zu der stärksten Hilfestellung gegeben werden (unspezifische Hilfe – semantische Hilfe – phonologische Hilfe, Kolfenbach 2002; Glück 2011a). Innerhalb des WWT sind eine wiederholte Durchführung zur Bestimmung der Benennkonsistenz sowie die Vorgabe von Abrufhilfen möglich. Letztere sind dort auch wörtlich vorgegeben. Bei Durchführung eines anderen aktiven Wortschatztests sollte sich der Diagnostiker an der genannten Hilfenhierarchie orientieren.
Vorgabe von Abrufhilfen: Marco kann in der zweiten Durchführung des AWST-R das Item „bügeln“ nicht benennen.
■ Allgemeine Abrufhilfe: „Überleg nochmal. Was macht sie hier?“
■ Semantische Abrufhilfe: „Das macht man, um Kleidung glatt zu bekommen. Da hat man so ein heißes Eisen und fährt damit über die Falten drüber. Manchmal kommt unten auch Dampf raus.“
■ Phonologische Abrufhilfe: „Das Wort fängt so an: bü-.“
Profitiert ein Kind von den gegebenen Abrufhilfen, ist dies ein Indiz dafür, dass dieser lexikalische Eintrag sehr wohl im mentalen Lexikon vorhanden ist, aber erst mithilfe der zusätzlichen Aktivierungsenergie durch die Abrufhilfe aktiviert werden konnte. Der Profit von Abrufhilfen liefert somit einen Hinweis auf eine lexikalische Zugriffsstörung. Die Wahl des Ablenkers ermöglicht es darüber hinaus, Hypothesen über den möglichen Störungsschwerpunkt hinsichtlich der Abrufstörung zu formulieren (Glück 2011a).
Benenntempo Auch das Benenntempo kann differenzialdiagnostisch herangezogen werden, um den Verdacht auf eine Wortabrufstörung zu untermauern. Während die PC-gestützte Version des WWTexpressiv (Glück 2011a) bereits automatisch die Benenndauer eines Kindes pro Item ermittelt, ist dies bei Durchführung der Paper-pencil-Version eines Tests sicherlich zum einen zu aufwändig, zum anderen auch aufgrund fehlender Vergleichswerte wenig aussagekräftig. Erfolgsversprechender erscheint es, stattdessen sogenannte RAN-Tests einzusetzen (Tab. 15). Dabei handelt es sich um Diagnostikverfahren, mit denen die Fähigkeit zum schnellen und gezielten Benennen von vertrauten, visuell dargebotenen Reizen, erfasst wird (Mayer 2016b). In der klassischen RAN-Anordnung werden dem Kind fünf unterschiedliche, hochfrequente und vertraute Bilder (entweder Objekte, Farben, Buchstaben oder Zahlen) gezeigt. Nachdem diese als bekannt gesichert wurden, soll das Kind diese fünf Stimuli nun jeweils zehn Mal in zufälliger Reihenfolge (also insgesamt 50 Bilder in zufälliger Abfolge) so schnell wie möglich benennen (Beitrag 5). Wortabrufgestörte Kinder haben bei diesem Aufgabenformat in der Regel erhebliche Schwierigkeiten, die sich entweder in einem reduzierten Benenntempo, einer reduzierten Benenngenauigkeit oder kombiniert reduziertem Benenntempo und -genauigkeit zeigen (German 1989; Beier / Siegmüller 2013, Beier 2013).
Tab. 15: Standardisierte Verfahren zur Erfassung der Benennungsgeschwindigkeit
Schnellbenennen | |
TEPHOBE: „RAN Farben, RAN Objekte, RAN Zahlen, RAN Buchstaben“ (Mayer 2016b) | letztes Kita-Jahr, 1. und 2. Klasse |
LTB-J: TASB (Barwitzki et al. 2008) | 15 bis 17 Jahre |
semantische Organisation und Strukturierung Ein weiterer möglicher Störungsbereich wortschatzauffälliger Kinder ist die Organisation und Strukturierung des mentalen Lexikons. Diagnostisch erfasst wird dies in der Regel über Kategorisierungsaufgaben, bei denen verschiedene Vertreter zu einem Oberbegriff sortiert und Ablenkerbilder aussortiert werden müssen, oder bei denen der Oberbegriff für mehrere Kategorievertreter gefunden werden muss. Zudem finden sich hier Aufgaben zum semantischen Assoziieren (Tab. 16).
Tab. 16: Standardisierte Verfahren zur Erfassung der semantischen Organisation
Semantische Organisation | |
PDSS: „Begriffsklassifikation“ (Kauschke/Siegmüller 2010) | 2;0 bis 6;11 Jahre |
SET 3-5: „Kategorienerkennung, Kategorienbildung“ (Petermann 2016) | 4;0 bis 5;11 Jahre |
P-ITPA: „Analogien, Wortschatz“ (Esser et al. 2010) | 4;0 bis 11;5 Jahre |
MSVK: „Wortbedeutung“ (Elben/Lohaus 2000) | 5 bis 7 Jahre |
SET 5-10: „Kategorienbildung“ (Petermann 2012) | 5;0 bis 10;11 Jahre |
Einflussfaktoren Neben den möglichen Bereichen, in denen sich die lexikalische Störung manifestieren kann, sollten zusätzlich auch zentrale Faktoren erfasst werden, die aufrechterhaltend oder verstärkend auf die Wortschatzauffälligkeiten wirken können (Kap. 2.3). In erster Linie ist dabei die Kapazität der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zu nennen, die in der Regel über das Nachsprechen von Pseudowörtern oder Zahlenfolgen erfasst wird (Ulrich 2016). Darüber hinaus kann der Entwicklungsstand der phonologischen Bewusstheit bestimmt werden, um mögliche verstärkende Faktoren zu ermitteln bzw. für die Planung von Therapiemaßnahmen wertvolle Anhaltspunkte hinsichtlich der bereits vorhandenen Fähigkeiten des Kindes zu erhalten.
störungsspezifische Therapieplanung Der diagnostische Prozess sollte so viel Zeit wie nötig, aber aus ökonomischen Gründen auch so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen. Dies bedeutet, dass es keine festgelegte Anzahl von Stunden gibt, die eine qualitativ hochwertige Wortschatzdiagnostik umfassen sollte. Vielmehr ist es Aufgabe des Diagnostikers, selbst zu entscheiden, ob die bereits erhobenen Informationen ausreichen, um eine spezifische, individuelle Therapieplanung zu ermöglichen.
Wie aus Abbildung 9 deutlich wird, kann es in einigen Fällen ausreichend sein, sich auf die Kerndiagnostik, also die Beantwortung der Frage nach dem lexikalischen Therapiebedarf, zu beschränken. So ist bspw. für eine strategieorientierte Therapie mit dem „Wortschatzsammler“ (Kap. 4) keine weitere Differenzierung des lexikalischen Störungsschwerpunktes notwendig, da sich diese Methode als vergleichbar effektiv für Kinder unterschiedlicher Störungsschwerpunkte erwiesen hat (Ulrich 2012). Gerade im schulischen Kontext birgt dies den Vorteil, dass die ohnehin oft sehr begrenzte Zahl an spezifischen Therapie- bzw. Fördereinheiten für die tatsächliche Intervention genutzt werden kann.
In anderen Fällen kann es aber