Marc F. Bloom

Sustainable Impact


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und zog einen langgezogenen Bogen über die Absprungstelle. Die anderen Club-Mitglieder winkten ihm zu. Der stämmige Mann stand breitbeinig über seinem Gleitschirm und richtete den Blick mit versteinerter Miene nach oben. Wenige Augenblicke später spürte Lindsay Greene wie sich sein Blickfeld eintrübte und seine Muskeln an Kraft verloren. Das Luftholen fiel ihm mit jedem Atemzug schwerer. Er schloss die Augen und presste die Kiefer aufeinander. Mit seiner gesamten Willenskraft stemmte er sich gegen den Verlust des Bewusstseins. Der Wind erfüllte die Kammern der Nylon-Tragfläche und der Schirm schob sich weiter über das zwei Kilometer tiefer gelegene Valle del Elqui. Die Arme hingen schlaff in den Brems- und Steuerseilen. Seine Muskeln hatten ihre Kraft verloren. Sekunden­bruchteile später war alles schwarz.

      14.Pevek, nordsibirische Provinz Tschukotka (Russland) – 21. September, 14:05 Uhr Ortszeit

      Wie jeden Tag begann der dunkelhaarige Olayuk Ashevak den Arbeits­tag mit einer Tasse heißem Tee aus seiner Thermoskanne. Noch müde von der langen Fahrt zu seinem Arbeitsplatz im Hafen von Pevek musterte er von der Kanzel des 35 Meter hohen Stückgutkrans den im Hafenbecken liegenden Frachter. Bis zum Ende der Spätschicht musste er den mit Handelswaren und Versorgungsgütern gefüllten Laderaum mit zwei seiner Kollegen entladen. Frachter, wie der vor ihm liegende, sicherten den Großteil der Versorgung des im äußersten Nordosten Russlands gelegenen autonomen Verwaltungsgebiets Tschukotka. Die am Eingang zur Chaunskaya Bucht in der Ostsibirischen See gelegene Hafenstadt Pevek war dabei der wichtigste Brückenkopf der Gegend. Erst 1930 gegründet und 1967 mit Stadtrechten ausgestattet, hatte die Stadt noch immer weniger als 10.000 Einwohner. In der abgelegenen und nach westlichen Maßstäben unzureichend erschlossenen Region war Pevek aber schon eine bedeutende Metropole und zugleich die nördlichste Stadt Russlands.

      Olayuk Ashevak war froh, einen der Arbeitsplätze bei der Hafen­gesellschaft ergattert zu haben. Der offiziellen Statistik zufolge hatte das Verwaltungsgebiet Tschukotka lange Zeit das geringste Pro-Kopf-Einkommen in Russland; Tuberkulose und Alkoholismus galten als Volkskrankheit. In den vergangenen Jahren war bereits ein Großteil der Bevölkerung fortgezogen. Denn obwohl die Region in den letzten Jahren stark durch ihren Gouverneur – einem Öl- und Gas-Oligarchen – mit umfang­reichen Infrastrukturinvestitionen gefördert worden war und die Einwohner durch direkte Zuwendungen am Aufstieg der russischen Wirt­schaft partizipiert hatten, lebte der Großteil der Bevölkerung noch immer von den kargen Möglichkeiten der Landwirtschaft, vom Fischfang und der Rentierhaltung. Auch Olayuk Ashevaks Familie, dessen Vorfahren als Eskimos vor über 50 Jahren in das vom Polarkreis durchteilte Gebiet gekommen waren, besaß noch immer eine Rentierherde. Doch die Anforderungen der neuen Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und die Veränderungen der arktischen Tundra hatten auch ihn gezwungen, neue Möglichkeiten zu suchen, seine Familie zu ernähren. Schon seit Jahren waren die Preise für Rentierfelle und Fleisch durch die Einfuhr billigen Mastfleischs und in Fabriken hergestellter Funktionskleidung ins Bodenlose gefallen. Zuletzt hatte der Ertrag nicht einmal mehr ausgereicht, das Notwendigste für Essen und Kleidung zu bezahlen. Nicht sehr lange, so schätzte Olayuk, würde es noch dauern, bis auch er seine Rentierherde würde ganz aufgeben müssen. Die Tiere hatten in den letzten Jahren immer weniger Junge zur Welt gebracht. Zudem litten viele Tiere unter Krankheiten. Mehrere waren sogar verendet, ohne dass Olayuk eine genaue Ursache dafür hatte ausmachen können.

      Bis vor einem Jahr hatte Olayuk mit seinem einzigen Sohn in den verstreuten Seen und kleinen Tümpeln fischen können. An den Wochen­enden waren sie in der Frühe losgezogen, um den Speisezettel der Familie mit dem anzureichern, was die Wildnis der ostsibirischen Tundra zu bieten hatte. Schneehühner, Wildgänse, Enten und Fisch. Olayuk hatte sich bei den regelmäßigen Ausflügen mit seinem sechzehnjährigen Sohn daran erinnert, wie er von seinem Vater das Jagen und Fischen gelernt hatte. Er war stolz auf seinen einzigen Sohn gewesen. Und er hätte sich gewünscht, dass er bei der Familie bleiben würde und die Rentierherde und die Hütte übernehmen würde. So wie er selbst damals von seinem Vater. Doch auch er hatte einsehen müssen, dass es für Ananuk keine Perspektive gab in einem Land, dessen natürlichen Ressourcen nicht mehr ausreichten, eine Familie zu ernähren. Deshalb hatte er seinen Sohn mit schwerem Herzen unterstützt, als dieser nach der Schule in das weit entfernte Yakutsk gegangen war, um Ölbohrtechnik zu studieren. Eines Tages wollte er in seine Heimat zurückkehren und am Wohlstand teilhaben, den die reichen Bodenschätze dem abgelegenen Landstrich in Zukunft noch bieten sollten. Und Olayuk wusste, dass es das Beste war, Ananuk gehen zu lassen. Ananuk sollte nicht – so wie er selbst – gezwungen sein, seinen Lebensunterhalt als angelernte Kraft zu verdienen.

      In den Momenten nach der Jagd hatten sie oft zusammen gesessen und geredet. Gemeinsam hatten sie sich dann eine traditionelle Pfeife angesteckt und Olayuk erzählte von den alten Zeiten, von der Jagd und vom Fischen. Olayuk hatte dabei alles über die Tiere und Pflanzen der Tundra, das Wetter, den Sternenhimmel und die Jahreszeiten gelernt. An einem Wochenende, vor genau einem Jahr, waren sie das letzte Mal gemeinsam zur Jagd gegangen. Die Beute war gut gewesen. Vier ausgewachsene Schneegänse. Genug, um die fünfköpfige Familie mehrere Tage zu ernähren. Sie hatten sich auf einem großen, mit Flechten bewachsenen Stein nieder­gelassen, um den Jagderfolg mit der gemeinsamen Pfeife zu würdigen. Die Sonne ließ das Wasser in einem der kleinen Tümpel, die sich an vielen Stellen in dieser Gegend gebildet hatten, glitzern. Die Luft stand und es war für die Jahreszeit noch unglaublich warm. Unnatürlich warm.

      Ananuk stand von dem Findling auf und stopfte die Pfeife mit Tabak, den sein Vater aus der Stadt mitgebracht hatte. Der einzige Luxus, den Olayuk sich gönnte. Ananuk war einige Schritte abseits gegangen, um nachzudenken. Die Luft roch modrig. Er streifte ein Streichholz an der abgenutzten Reibfläche der Schachtel entlang, um die Pfeife zu entzünden. Bruchteile einer Sekunde später stand er inmitten einer riesigen gelborangen Stichflamme. Die Explosion war aus dem Nichts gekommen. Die Ausmaße unvorstellbar, die Temperatur unerträglich. Olayuk, der noch immer über zehn Schritte entfernt auf dem Findling saß, wurde von der Druckwelle auf den angetauten Boden geworfen. Der Sauerstoff im Zentrum der Explosion war schlagartig verbraucht. Die letzten Reste von Atemluft waren Ananuk aus den Lungen gesaugt worden. Mit versengten Haaren und verbrannter Kleidung sank er zu Boden. Ohne eine Regung. Olayuk Ashevak brauchte Sekunden, um sich aufzuraffen. Dann rannte er atemlos zu seinem Sohn und fand ihn ohne Lebenszeichen in einem flachen Tümpel des aufge­weichten Permafrost­bodens.

      Noch lange hatte Olayuk Ashevak beim Leichnam seines Sohnes gesessen und still geweint. Geweint über den frühen und unsinnigen Verlust seines einzigen Sohnes. Dabei hatte er jedes Zeitgefühl verloren und wahrscheinlich Stunden in der nasskalten Tundra gelegen. Noch Wochen später hatten ihm die Folgen der Verkühlung zu schaffen gemacht.

      Später hatte ihm sein Freund Tupaliak, der als Mädchen für Alles bei einer Forschungsstation arbeitete, erklärt, dass es sich bei der Explosion vermutlich um eine Methangasexplosion gehandelt hatte, die durch Ananuk selbst entzündet worden war. Diese Freisetzungen gasförmigen Methans aus den Permafrostböden Sibiriens seien in letzter Zeit aufgrund des wärmer werdenden Klimas immer öfter zu beobachten. Der bis in mehrere hundert Meter Tiefe gefrorene Boden der arktischen Regionen speichert organischen Kohlenstoff in Form von Methanhydrat. Steigende Temperaturen setzen das Gas frei, so dass es, wie im Falle der von Ananuk ausgelösten Explosion, seine zerstörerische Wirkung entfalten kann.

      „Ich will das alles nicht mehr hören“, hatte Olayuk seinen Freund barsch angefahren. Zu tief saß sein Schmerz. „Die ganzen wissenschaftlichen Erklärungen vom Klimawandel. Unser Land wird zerstört. Unsere Lebensgrundlagen werden uns genommen. Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können.“ Olayuk hatte seinem Freund Tupaliak nicht mehr länger zugehört. Doch Tupaliak war daran gewöhnt. Er hatte sich in der kurzen Zeit seiner Tätig­keit für die Forschungsstation Kenntnisse angeeignet, die für die Verrichtung seiner eigentlichen Aufgabe nicht weiter von Bedeutung waren. Aber es machte ihm Spaß, die meist ausländischen Wissenschaftler nach dem auszufragen, was sie gerade mit seiner Hilfe erforschten. So wurden die schweren körperlichen Arbeiten, die er bei den umfangreichen Untersuchungen des Bodens zu verrichten hatte, erträglicher. Oft und gerne teilte Tupaliak dann die Erkenntnisse mit seinen Freunden. „Die Tiefen des Permafrostbodens speichern unvorstellbare Mengen von Methan, ebenso wie das Sediment der Meeresböden. Das ist das Produkt von Mikroorganismen,