Alicia Sérieux

Die Magie der Mandalas


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Gefühlte hundert Mal zog ich mich um und meine Unsicherheit erschreckte mich zutiefst. War ich so lange nicht mehr abends unterwegs gewesen? Am Ende entschied ich mich für eine braune Kordhose, eine weiße, eng anliegende Bluse und hellbraune Stiefel. Mein Haar band ich mir im Nacken zusammen und legte ein wenig Maskara auf. So ganz farblos wollte ich mich dann doch nicht auf die Straße wagen. Der Tag war lang gewesen und die Grübelei über die Worte meiner Schwester hatte mich irgendwie erschöpft. Ich wusste genau was sie meinte und vielleicht hatte sie ja auch Recht. Ein Dauerzustand sollte mein bisheriger Lebenswandel wohl besser nicht werden, aber ich konnte ihn nicht einfach ändern. Noch nicht. Ich fühlte mich noch immer wie gelähmt und nicht fähig, über Dinge wie Beziehungen, Dates oder Ähnliches nachzudenken. In meinem persönlichen Fokus stand meine Karriere, denn sie war der Schlüssel zur Veränderung. Schnell nahm ich meine Handtasche, zog meine Jacke an und machte mich auf den Weg nach unten. Der Wagen musste in den nächsten fünf Minuten da sein. In Gedanken versunken ging ich die Treppen hinunter und stieß fast mit meiner schlechtgelaunten Nachbarin zusammen, die gerade von ihrem Abendspaziergang mit ihrem Rauhaardackel zurückkam. „Ist heute Weihnachten oder warum verlassen Sie um diese Uhrzeit noch das Haus?“ krächzte sie und grinste mich boshaft an. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Aber Sie können sich gern auf ihren Besen schwingen und mir nachfliegen, wenn Sie so neugierig sind,“ konterte ich und ließ sie einfach stehen. Im Prinzip war ich ein sehr höflicher Mensch, aber diese Frau verdiente keine Höflichkeiten. Sie war eine alte Hexe und ich war froh, wenn ich ihr aus dem Weg gehen konnte. Unten an der Tür angekommen bemerkte ich einen großen, schwarzen Jeep, dessen Scheiben verdunkelt waren. War das Rahuls Wagen? Kaum war ich ins Freie getreten, öffnete sich die hintere Tür und ich konnte Ajit erkennen. Er winkte mich hektisch zum Auto heran und bedeutete mir, einzusteigen. Man hätte meinen können, er wäre auf der Flucht. „Hallo Ajit,“ begrüßte ich ihn und stieg ein. „Steigen Sie ein, bevor uns noch jemand erkennt,“ entgegnete er gehetzt und rutschte zur Seite, damit ich einsteigen konnte. Schnell tat ich, was er verlangte und schlug die Tür zu. Erst jetzt konnte ich mich ein wenig orientieren. Vorne saßen die beiden Bodyguards. Einer fuhr und der andere musterte mich misstrauisch durch den Rückspiegel. Ajit saß in der Mitte zwischen mir und Rahul und wirkte alles andere als entspannt. Was man von Rahul nicht behaupten konnte. „Guten Abend Miss Johnson,“ begrüßte er mich mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen. „Hallo Mister Advani,“ erwiderte ich seinen Gruß und schenkte ihm ein nervöses Lächeln. Soweit ich es erkennen konnte, trug Rahul Jeans und ein helles Sweatshirt darüber. Auf seinem Schoß lag ein grauer Anorak. Vollkommen unscheinbar. Er würde in keinem Pub auffallen, wenn ihm nicht gerade diese Hardcore-Fans auflauerten, die ich im Hotel gesehen hatte. Seine honigbraunen Augen schienen mich ebenfalls kurz zu mustern. Wurde ich gerade rot? „Ich halte das noch immer für keine gute Idee, Rahul,“ unterbrach Ajits nervöse Stimme meine Gedanken. „Bleib locker, Ajit. Was soll schon passieren? Hier kennen mich nicht so viele Leute und ich denke nicht, dass ausgerechnet in einem Pub ein Massenauflauf meiner englischen Fans sein wird,“ entgegnete Rahul locker und klopfte seinem Agenten beruhigend auf die Schulter. Ich musste mir eingestehen, dass mich seine lässige Art für einen kurzen Moment beeindruckte. „Was meinen Sie, Miss Johnson?“ fragte mich Rahul plötzlich. Überrumpelt stotterte ich: „Ich.. ähm… ich denke nicht, dass es Probleme geben wird.“ „Siehst du!“ sagte Rahul an Ajit gewandt und lächelte zufrieden. „Das kann keiner vorhersehen, Rahul. Du solltest das wissen!“ schimpfte sein Agent und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sollte es Probleme geben, sind wir schnell zur Stelle,“ meldete sich der Bodyguard zu Wort, der auf dem Beifahrersitz saß. Anscheinend beherrschte er sehr gut unsere Sprache. „Du verwechselst England mit Indien, Ajit. Hier kann ich mich so gut wie unerkannt unter die Leute mischen. Und das werde ich auch tun. Egal, wie sehr du dich darüber ärgerst,“ erklärte Rahul gelassen. Von Ajit erntete er nur ein genervtes Schnauben. Rahul beugte sich soweit vor, dass er mich ansehen konnte und sagte: „Ich war so frei mir schon ein Pub auszusuchen. Ich war dort einige Male während meiner Studienzeit. Ist das in Ordnung für Sie?“ Ich nickte und antwortete: „Natürlich, wie Sie möchten.“ Insgeheim war ich sehr erleichtert, denn ich hatte mir nicht überlegt, wo ich mit ihm hingehen konnte. Das lag wohl daran, dass ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgegangen war. Rahul sagte dem Fahrer die Adresse, die dieser in seinen Navi eingab und schon ging es los. Die Fahrt verbrachten wir schweigend. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Rahul. Er blickte aus dem Fenster und sah zu, wie das nächtliche London an ihm vorbeizog. Ab und zu umspielte ein Lächeln seine Lippen. Ich musste ab und an unwillkürlich ebenfalls schmunzeln, merkte es dann aber und wurde wieder ernst. Diese Wirkung auf mich fand ich mehr als seltsam. Wir fuhren etwas auswärts, sodass wir schon fast am Stadtrand Londons waren. Der Wagen hielt vor einem alten Pub, das von außen sehr schäbig wirkte. Ich kannte es nicht da ich mich selten in diesem Teil von London aufhielt. „Wir sind da,“ sagte Rahul und machte seine Jacke zu. „Sobald du erkannt wirst, verschwindest du. Hast du gehört?“ fragte Ajit aufgeregt. „Ja, schon gut. Sind Sie soweit?“ fragte Rahul an mich gewandt und legte die Hand an die Autotür, bereit, um sie auf mein Kommando hin zu öffnen. Ich nickte und öffnete die Tür auf meiner Seite. Fast gleichzeitig stiegen wir aus. Ich wartete bis er um das Auto herumgegangen war und vor mir stand. Ich verstaute meine Hausschlüssel noch in meiner Handtasche, die ich die ganze Fahrt über in der Hand gehalten hatte, und fragte dann: „Können wir, Mister Advani?“ „Bitte nennen Sie mich Rahul. Immerhin werden wir ja in den nächsten Wochen sehr viel Zeit miteinander verbringen und ich kann dieses Gesieze immer nur eine bestimmte Dauer über ertragen,“ sagte er und warf sich seine Jacke locker über die rechte Schulter. Etwas verwirrt über seine plötzliche Verbindlichkeit entgegnete ich: „In Ordnung. Ich bin Leah.“ Er nickte lächelnd und bedeutete mir mit einer galanten Handbewegung, vorzugehen. „Na schön,“ sagte ich und folgte seiner Aufforderung. Nach wenigen Metern betraten wir das Pub. Es war nicht viel los, aber es schien von innen sehr viel gemütlicher zu sein als es von außen gewirkt hatte. Die Männer, die an der Bar saßen, sahen interessiert zu uns herüber. Es waren alles ältere Leute, die mit Sicherheit noch nie etwas von Rahul Advani, geschweige denn von Bollywood gehört hatten. Das beruhigte mich irgendwie. „Setzen wir uns dort hin?“ fragte Rahul und wies auf einen Tisch im hintersten Winkel des Pubs, der direkt an einem der kleinen Fenster stand. „Warum nicht,“ sagte ich bloß und ging auf den Tisch zu. Er wartete, bis ich Platz genommen hatte. Dann nahm er mir gegenüber Platz. Er griff nach der Karte und überflog sie kurz. Wenige Sekunden, nachdem wir uns gesetzt hatten, kam auch schon der Wirt an unseren Tisch. Er war ein großer, kräftiger Mann mit Vollbart und wachen, blauen Augen. Er lächelte freundlich und fragte: „Was darf es denn sein, Freunde?“ Rahul sah mich fragend an und schien mir den Vortritt lassen zu wollen. „Ein Cider bitte,“ sagte ich. Der Wirt nickte und wandte sich an Rahul. „Ein Guiness,“ bestellte er. „Kommt sofort,“ sagte der Wirt und ging zurück hinter seinen Tresen, um unsere Getränke zu holen. Betretenes Schweigen breitete sich zwischen mir und Rahul aus. Kurz darauf kam der Wirt und stellte unsere Getränke vor uns auf dem Tisch ab. „Zum Wohl,“ sagte Rahul und hob sein Glas. „Zum Wohl,“ entgegnete ich und stieß mein Glas gegen seins. Er lächelte amüsiert und nahm einen großen Schluck. Dann atmete er durch und schien sich sichtlich zu entspannen. „Das ist einfach lecker. Es ist Jahre her, seit ich das letzte mal ein gutes Guiness getrunken habe,“ sagte er und stellte zufrieden lächelnd das Glas auf den Untersetzer. Auch ich hatte einen Schluck von meinem Cider getrunken und stellte es nun ab. „Wie hast du denn dieses Pub entdeckt?“ fragte ich und sah mich um. Es war wirklich sehr gemütlich und urig. Die massiven Holztische und die alten Lampen hatten etwas Authentisches. Nicht so wie die hippen, modernen Pubs in der City. „Ein Freund aus meiner Studienzeit hat es mir damals gezeigt. Er kam hier aus der Gegend,“ erklärte Rahul und sah sich ebenfalls zufrieden lächelnd um. „Was hast du eigentlich studiert?“ fragte ich ganz professionell und sah ihn wieder an. „Die englische Sprache. Mein Vater legte sehr viel Wert darauf, dass ich diese Sprache perfekt beherrsche,“ erklärte er. „Also hat er dich in deinem Wunsch, Schauspieler zu werden, unterstützt?“ fragte ich nach. Er lachte kurz auf und antwortete: „Nein, nicht in der Schauspielsache. Er hatte andere Pläne für mich.“ Auf meinen fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Er wollte, dass ich Anwalt werde. Und ich ließ ihn in dem Glauben. Bis ich von meinem Sprachstudium zurück nach Hause kam und ihm eröffnete, dass ich nach Mumbai gehen würde um meine Schauspielkarriere ins Rollen zu bringen.“