André Schaberick

Der Tod ist mein Freund


Скачать книгу

ich einer von ihnen einen Punkt auf den Hintern malen. Wenn der dann immer wieder auftaucht, weiß ich, dass ich was falsch mache. Und auch der verfluchte Gang sieht immer gleich aus. Er verläuft stets geradeaus. Es könnte aber eine Täuschung sein. Vielleicht ist es einfach nur zu dunkel, und ich merke gar nicht, dass ich im Kreis laufe.

      Plötzlich ein Lichtblick: Es wurde heller. Oder schien es ihm nur so? Nein, es wurde tatsächlich heller. Samuel hatte den Eindruck, dass er den Fußboden jetzt etwas detaillierter erkennen konnte. Noch immer war es zu dunkel, um Details auf dem Boden zu sehen, aber die Umrisse der Steine wurden ein wenig klarer.

       Da hinten! Das scheint das Ende des Ganges zu sein. Zumindest sieht es so aus. Es sind vermutlich noch hundert Schritte, dann sollte ich dort angekommen sein. Wie groß muss dieses Gebäude sein, wenn ich seit einer Ewigkeit geradeaus laufe und kein Ende finde? Es muss ein gewaltiger Bau sein. Oder vielleicht ist es gar kein Gebäude, sondern nur ein unterirdischer Gang, der von außen gar nicht als Gebäude sichtbar ist?

      Einerseits vom Enthusiasmus getrieben, andererseits von seiner Vernunft gebremst versuchte Samuel weiterhin, möglichst leise zu gehen, dabei aber schnell zu sein. Er wollte möglichst wenige Geräusche erzeugen. Eigentlich hätte er völlig unbesorgt ohne Schuhe laufen können. Bisher gab es nicht ein einziges Mal einen triftigen Grund zur Sorge. Es lagen keine Scherben herum, diese hätte er sicher auch durch die Schuhe gespürt. Aber wie der Teufel es in der Regel wollte, würde er genau in dem Moment, wenn er die Schuhe ausziehen würde, in eine Scherbe oder auf einen spitzen Gegenstand treten. Bei seinem Glück musste es einfach so kommen.

      Das vermeintliche Ende des Ganges - ein helles Leuchten - kam immer näher. Als er sich dem Licht näherte, verringerte er seine Geschwindigkeit immer mehr. Schließlich wusste er nicht, was ihn dort erwartete. Lauerten dort weitere Gefahren? War das vermeintliche Ende des Ganges gar kein Ende? War es vielleicht wieder der Anfangspunkt seines Albtraums? Die letzten zwanzig Schritte ging er sehr langsam und vorsichtig, fast so, als würde er über Eierschalen schleichen. Eine herunterfallende Stecknadel wäre laut dagegen gewesen. Selbst das Atmen versuchte er zu unterdrücken, doch je mehr er dies versuchte, desto mehr quälte ihn das Bedürfnis, richtig tief Luft zu holen. Samuel hielt sich ein Tuch vor den Mund, das er soeben aus seiner Hosentasche gezogen hatte, um seine Geräusche zu dämpfen.

      Endlich am Ende des Ganges angekommen steckte er vorsichtig seinen Kopf durch den schmalen Ausgang. Er kniff die Augen zusammen, das Tageslicht brannte regelrecht, so sehr hatte er sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Er blickte nur mit einem Auge nach draußen, das andere hielt er aus taktischen Gründen mit der Hand verschlossen.

      Schnell gewöhnte sich das geöffnete Auge an das helle Licht. Endlich wieder Sonnenschein. Er sah Bäume, Blätter, Büsche und einen Weg, aber er konnte keine Menschen entdecken. Ein gutes Zeichen, denn so musste er nicht fürchten, schon wieder flüchten zu müssen. Er drehte sich um und blickte mit dem vom Licht geschützten Auge in die Dunkelheit. Er wollte kontrollieren, ob sich jemand von hinten unbemerkt angeschlichen hatte. Zu seiner Zufriedenheit konnte er weder jemanden entdecken noch hören.

      Jetzt konnte Samuel einen Schritt nach draußen wagen. Vorsichtig kontrollierte er die Umgebung. Er blickte nach links und rechts, nach oben und auch nach unten. Von überall hätte sich ihm jemand nähern können, doch er sah keine Gefahr.

      Samuel entspannte sich ein wenig. Seine Muskulatur, die die ganze Zeit bis zum Bersten angespannt war, durfte sich das erste Mal wieder lockern.

      Erst jetzt, da sich seine Angst vor einer möglichen Gefahr legte, betrachtete er die wunderschöne Landschaft. Er entdeckte bunte Blumen, große Insekten, unglaublich schöne Bäume und einen kleinen Wasserfall, der ungefähr zwanzig Schritte vor ihm in die Tiefe rauschte und dabei große Nebelwolken versprühte. Die Luft duftete sehr würzig, und die Sonne prickelte wie tausend Stecknadeln auf seiner Haut. Es fühlte sich an, als befände er sich im Süden, wo die Sonne endlos schien.

       Wo bin ich? Es ist wunderschön in diesem Wald. Noch nie habe ich so eine traumhaft schöne Landschaft gesehen. Vielleicht gibt es hier Elfen, Zwerge und Zauberer. Oder Gnome? Hoffentlich gibt es keine Riesen, ich habe Angst vor ihnen.

       Ach was, wieso habe ich so eine Angst? Hier ist doch gar nichts. Alles ist wunderbar. Ich glaube, die Dunkelheit in diesem verfluchten Gang hat meine Fantasie beflügelt, dass ich nun Angst vor Dingen habe, die gar nicht existieren. Das Böse habe ich hinter mir, jetzt kann eigentlich nur noch das Gute kommen.

      Noch immer konnte Samuel keine Menschen entdecken, dafür sah er plötzlich kleine zwergähnliche Lebewesen im Unterholz herum huschen, die ihm in etwa bis zum Knie reichten. Ob sie ihn bereits entdeckt hatten?

      Sie waren wirklich winzig, sahen aber aus, als wären sie wesentlich älter, als er. Einige schätzte er auf über hundert Jahre. Aber trotz ihres vermeintlich hohen Alters bewegten sie sich flink wie Wiesel.

      Ständig trugen sie etwas auf ihren Schultern, sägten, schnitten oder sammelten Äste und Zweige, pflückten Beeren und Pilze und legten die Waren in ihre kleinen Körbe.

      Bewegungslos schaute Samuel ihnen zu. Er dachte, dass sie weglaufen würden, würde er sich zu schnell bewegen.

      Die kleinen Männlein und Weiblein bewegten sich zwischen den Büschen hin und her und raschelten in den abgestorbenen Blättern. Wirklich gut sehen konnte er sie nicht. Sie waren zu gut versteckt. So sehr er sich auch anstrengte, konnte er nicht ausmachen, um welche Art von Spezies es sich handelte. Bald sahen sie aus wie Gartenzwerge. Doch seit wann gab es lebende Gartenzwerge? Sie waren doch bloß eine Erfindung der Märchenerzähler. Und wie konnten es so viele sein? Überall bewegte sich plötzlich die Natur. Büsche wackelten hin und her, Blätter und Beeren verschwanden, vermutlich ernteten sie diese gerade. Sie schienen ihn nicht bemerkt zu haben, oder er erweckte nicht ihr Interesse. Also entfernte er sich einen weiteren Schritt vom Ausgang, durch den er gerade getreten war. Gleich fühlte er sich wohler, denn so ein dunkler Durchgang im Rücken barg immer gewisse Risiken. Es hätte ja doch noch jemand von hinten auf ihn zu kommen können, um ihn zu überfallen oder ähnlich unangenehme Dinge mit ihm zu tun. Sollte nun jemand aus dem Hinterhalt gestürmt kommen, würde er an Samuel vorbeilaufen. Er positionierte sich taktisch so gut, dass man ihn vom Inneren des Ganges aus nicht sehen konnte.

      Der Himmel leuchtete intensiv blau, keine Wolke war zu sehen. Jedoch wurde er stets heller. Die Sonne brannte mittlerweile in seinen Augen, sodass er sie schützen musste. Er hielt seine Hand wie einen Schirm über die Augen und betrachtete mit zusammengekniffenen Lidern die Natur. Dabei stellte er fest, dass der Himmel mittlerweile annähernd schneeweiß war. Auf keinen Fall konnte er jetzt noch nach oben blicken. Gezwungenermaßen blickte er auf den Fußboden. Von der schönen Natur mit ihren kleinen Zwergen konnte er nichts mehr erkennen. Es war viel zu hell. Tränen liefen sein Gesicht herunter, die Muskulatur seiner Augen verkrampfte sich bereits. Das Licht schmerzte.

      Plötzlich rief jemand seinen Namen.

      „Samuel!“

      Er erschrak und wollte sich schnell verstecken, doch es wollte ihm nicht gelingen. Etwas Unsichtbares verhinderte, dass er sich bewegen konnte. Erst jetzt merkte er, dass er gar nicht mehr stand, sondern auf etwas lag. Unsicher betrachtete er sein Umfeld, konnte jedoch nichts erkennen. Alles war verschwommen und undeutlich.

      Samuel tastete alles ab, was er mit den Armen erreichen konnte und fühlte etwas Weiches unter sich. Nun wurde es wieder dunkler, er konnte die Augen endlich wieder öffnen. Verwundert stellte er fest, dass er in einem Bett lag und von Kabeln und Schläuchen gefesselt war.

      An diversen Stellen hatte man ihm Klebestreifen und Sensoren auf die Haut geklebt, vermutlich um seine Vitalfunktionen zu überwachen.

      „Er wacht auf“, vernahm er aus der Ferne. Es klang, als würde jemand in ein langes Rohr hineinsprechen und man selbst am anderen Ende lauschen.

      Er traute seinen Augen nicht, als er wieder klar sehen konnte, denn er blickte in das langweilige Gesicht einer Krankenschwester, die durch eine Atemschutzmaske verunstaltet war. Neben ihr stand ein Arzt, der gerade auf die elektronischen Überwachungsgeräte schaute. Auch er trug so eine