Micha Wölfer

Jener Sommer in Wien, als Tutanchamun bei mir wohnte


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Vorsprung war, auf dem der Koloss stand. Dann wollte ich mich am Sarkophag hochstemmen. Der war wirklich sehr hoch, und ich bin etwas klein gewachsen. Er ging mir bis zur Nasenspitze. Es gelang mir nicht. Spätestens da hätte ich normalerweise aufgegeben. Aber jetzt nicht. Wie ich mir diese Dreistigkeit herausnehmen konnte, weiß ich nicht. Jedenfalls holte ich den kleinen Schemel für Aufseher, der in einer Ecke des Raumes stand, stellte ihn an der Steinwand ab, stieg hinauf, zog mein rechtes Bein über den breiten Rand und beugte mich hinein.

      Und da sah ich es!

      Der spitze Schrei, den ich losließ, war Ausdruck meines Entsetzens (obwohl ich nie schreie und schon gar nicht in der Art. Wie ich es hasse, wenn jemand so spitz schreit … Noch dazu, wenn der Jemand ich bin). Also ganz meine übliche Zurückhaltung vergessend, schrie ich auf, als hätte mich eine Schlange gebissen und federte reaktionsschnell wie nie zurück, sonst wäre ich glatt in das dunkle Grab geplumpst. Bei dieser abrupten Aktion verlor ich das Gleichgewicht und wäre fast wie ein ungeübter Reiter auf einem störrischen Gaul nach hinten gefallen; konnte mich aber doch noch rechtzeitig abfangen und hantelte mich nur von meinen Instinkten beherrscht, sofort, und so schnell ich konnte, wieder herunter.

      Ich schlotterte, mein Herz raste … es wird jeden Moment aussetzen – davon war ich überzeugt, denn so erschreckt hatte ich mich noch nie! Nicht einmal, damals, als Kleine, als mein verrückter Cousin Flori einen toten Frosch mit doppeltem Kopf aus seiner Hose holte, mir vor die Nase hielt und behauptete, das sei ein Alien.

      Ich hielt mir die flache Hand gegen die Brust und atmete gepresst durch den Mund mehrmals ein und aus.

      Da war etwas – im Steintrog! Da war etwas, auf das ich fast draufgefallen wäre! Da war etwas, das mich anstarrte!

      Im Inneren des düsteren Dinges sah ich direkt in zwei große, schwarz umrahmte Augen, die mich flackernden Blickes fixierten – als würden sie sich in mein Gehirn einbrennen wollen!

      Sonst sah ich nichts. Die Gestalt war verhüllt bis über die Nasenspitze. Aber es war keine der Mumien, da war ich mir sicher – die Augen lebten!

      Eigentlich wollte ich schon weglaufen, wie die ehemals kleine Göre, vor dem vermeintlichen Frosch-Alien. Aber dann beruhigte ich mich einigermaßen und überlegte, was das jetzt eigentlich war.

      Mein erster klarer Gedanke, den ich fassen konnte: Das war kein Geist – nein, denn an Geister glaubte ich nicht. Zumindest heute nicht mehr. Als Kind schon … was für eine schreckliche Zeit!

      So verrückt, noch ausgewachsen an so etwas Absurdes zu glauben, war nur Esoterik-Hubert; denn, wäre er an meiner Stelle, hätte ihn bei seinen Ängsten glatt der Schlag getroffen und die Pensionsversicherung hätte sich einiges erspart. Mein Herz pumpte zwar noch immer wie wild und mein Blutdruck musste bald die Gefahr-in-Verzug-Grenze erreicht haben, aber mein Verstand war überzeugt: ein Unterstandsloser hatte hier sein Nachtquartier aufgeschlagen.

      Jedoch, eines erschien mir merkwürdig: die starke Augenbemalung! – Und daraus schloss ich mit kriminalistischem Spürsinn, dass es sich um ein weibliches Wesen handeln müsse, noch dazu war die Malerei so glamourös wie das große Abend-Make-Up von Bobbi Brown … Smokey Eyes, sicher mit Rich Caviar Eye Shadow erzeugt. Mit Farben kannte ich mich aus, auch wenn ich an mir selbst Körperbemalung ablehne.

      Also doch keine Unterstandslose.

      Möglicherweise eine von den Society-Damen, die von der letzten Dinner Party hier im Hause übrig geblieben war? Einen Saal vom Museum konnte man auch für private Feste mieten, und bei den Galadinners sollte ja immer ordentlich gebechert werden, wie mir einmal Herr Willi, der Security Mensch, erzählte, dessen Aufgabe es dann war, die letzten Gäste am Morgen nach draußen zu komplimentieren und alle Nischen zu inspizieren, ob es sich da keine Besoffenen gemütlich gemacht hätten... Vielleicht war er bei seinem Rundgang nicht sehr motiviert?

      Allerdings – ich verwarf den Gedanken wieder, die letzte Abendveranstaltung war bereits vor vierzehn Tagen!

      Also doch jemand ohne festen Wohnsitz?

      Jedenfalls, die schwarze Wanne hier war ihr Nachtquartier und ich musste sie arg erschreckt haben. Vermutlich genauso, wie sie mich erschreckt hat.

      „Alles in Ordnung“, rief ich gedämpft und noch etwas zittrig an Stimme. „Ich bin nicht von der Museumsaufsicht!“ Ich hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: „Aber Sie sollten nun Ihr Quartier verlassen, denn die haben das sicher nicht so gern ...“

      Nichts rührte sich.

      Dann musste ich plötzlich an den nächtlichen Alarm denken. War das etwa die Verursacherin? Aber was hat sie im Mumiendepot gesucht? Vielleicht wollte sie in eine Holzkiste schlüpfen? Wenn man keine Berührungsängste mit Trockenfleisch hat, ist eine Holzkiste sicher gemütlicher als der kalte Steinsarkophag des Nes-schu-tefnut, oder wie der Kerl hieß, dem er mal gehörte.

      Ich hatte ja meine eigene Erfahrung in solchen Dingen. Einmal musste ich eine ganze Nacht im großen Turm von Schloss Neuschwanstein verbringen – auf kalten Steinstufen, versteht sich. Man hatte mich unabsichtlich eingeschlossen, weil ich mich von meiner Schülergruppe entfernt hatte, um auf eigene Faust die Zimmer und Kammern zu erkunden, die man uns vorenthalten hatte; so auch das Innere des geheimnisumwitterten Turms, den noch kein Tourist erforscht hat, außer meiner Person … natürlich!

      Ich war früher ein großer Fan von derlei Unternehmungen, und manchmal gingen sie eben schlecht aus, so wie eben im bayerischen Nationalheiligtum.

      Jedenfalls wusste ich, wie es sich anfühlt auf kaltem Stein zu nächtigen. Keiner macht so was freiwillig.

      War sie ein verschlepptes Mädchen aus dem Osten? Gezwungen zur Prostitution und auf der Flucht vor einem Zuhälter? Und weil meine Natur immer Mitleid empfand mit Menschen, die von der Gesellschaft schlecht behandelt wurden, machte ich der Schläferin einen Vorschlag; in der Hoffnung, sie könnte mich verstehen, falls nicht, hätte ich es dann noch auf Englisch versucht – Bulgarisch oder Rumänisch hatte ich nicht im Repertoire.

      „Kommen Sie raus, ich spendiere uns ein Frühstück!“

      Ich wartete.

      „Wollen Sie Tee oder Kaffee?“, versuchte ich es weiter, da sich im Steinsarg noch immer nichts rührte.

      „Wollen Sie vielleicht ein paar Frankfurter essen – zum Aufwärmen? Und nachher einen Mohren im Hemd, mit Schlagobers?“, schlug ich vor und lehnte mich mit dem Rücken an den Steinsarg, der noch gut einen Meter über mir hoch ragte. Vielleicht sollte ich einfach ein bisschen mir ihr plaudern, überlegte ich, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Eine kleine Lüge könnte auch nicht schaden, denn waren Mohren für mich doch viel zu süß und viel zu kalorienreich: „Die Mohren mag ich besonders gern, die schmecken delikat“, fügte ich also hinzu. Ein deftiges Frühstück erschien mir angesichts ihrer Situation durchaus angebracht.

      Plötzlich bewegte sich etwas. Ich hörte hinter mir ein leises Klimpern und dann ein Rasseln, als würde Metall an Stein schlagen. Kurz darauf vernahm ich oberhalb von mir eine dunkle Stimme, die sich empörte, und zwar mächtig: „Was? – du verzehrst NUBIER?!“

      Ich erschrak, drehte mich um und sah hoch. Da stand im Steintrog ein männliches Wesen, nicht älter als zwanzig, und blickte auf mich herunter. Seine dramatisch betonten Augen funkelten mich angewidert an. Sein Oberkörper war nackt, um die Schultern hatte er sich einen Vorhang aus dem Nebenraum geworfen. Ich erkannte ihn am Muster – der schwere Stoff war mit großen, stilisierten Blattranken und Lotosblumen bestickt. Um seinen Hals trug er eine lange, goldene Kette, an der ein wuchtiger, farbenreicher Anhänger lässig vor seiner Brust baumelte.

      Der Sarkophagschläfer, der sein schwarzes Haar schulterlang wie Andrè Schuen trägt, stemmte nun die Hände in die Hüften und wiederholte seine Frage. Er sprach mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Undefinierbar. „Ein Kunstsprachenakzent aus Star-Trek“, würde Cousin Flori fachmännisch feststellen.

      An jedem seiner Handgelenke trug er ein breites, goldverbrämtes, mit bunten Perlen versehenes Armband – es waren solche, wie man sie im angrenzenden Museumsshop nicht gerade günstig kaufen konnte: Repliken.