Tom Bleiring

Die Chronik des Dunklen Reiches -Band 1-


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      Dort waren schwarze Linien erschienen, Brandzeichen nicht unähnlich.

      Sie waren ineinander verschlungen und erinnerten ihn an die Hautbilder, die er bei umherziehenden Zigeunern gesehen hatte.

      Gai hatte den Eindruck, dass sich diese Linien zu bewegen schienen, doch er dachte sich nichts weiter dabei und hielt es für eine Einbildung, verursacht durch den Schock.

      Er war kein kräftiger Bursche, eher dünn und schmächtig, doch er hatte bisher aus diesem Umstand stets das Beste zu machen gewusst.

      Gai war Dieb, und ein ungemein geschickter noch dazu, was er seiner Gerissenheit und seiner Statur zu verdanken hatte. Mit seinen sechzehn Jahren war er schon fast so etwas wie eine Legende unter den jugendlichen Dieben und Beutelschneidern, die es in Warma gab.

      Oder eher gegeben hatte, ging es ihm durch den Kopf.

      Er war gerade auf dem Weg nach Hause, von einem nächtlichen Beutezug kommend, als der Angriff auf die Stadt begonnen hatte.

      Die ersten Strahlen der Sonne hatten den Himmel in herrliches Purpur getaucht, als aus den Wäldern rings um Warma die Kriegshörner der Orks zu erklingen begannen und im selben Moment wuchtige Feuerbrände die Tore und Türme der Stadtmauer in Schutt und Asche legten.

      Die wenigen Stadtwächter konnten der heranbrandenden ersten Angriffswelle nichts entgegensetzen und fielen innerhalb weniger Minuten, so dass der Feind auf die nun ungeschützten Bewohner der Stadt losgehen konnte.

      Orks! Gai kannte diese Ungeheuer nur aus Märchen und Sagen, die man ihm in seiner Kindheit erzählt hatte. Es hatte geheißen, dass diese Wesen vor langer Zeit ausgestorben wären.

      Und nun waren sie wieder da, diese bepelzten, schweinsgesichtigen Unholde.

      Sie kamen aus den Wäldern, wie eine schwarze Flut, strömten in die Straßen und vernichteten alles, was ihnen in den Weg kam.

      In ihren heruntergekommenen Rüstungen und mit ihren rostigen Säbeln ähnelten sie dem Bild, welches Gai sich seit Kindesbeinen an von diesen Monstern gemacht hatte.

      Ihnen folgten Horden von schwarzen Metzgershunden, denen gelber Geifer aus dem Maul tropfte.

      Sie rissen das Vieh, fielen die Menschen an und verschleppten schreiende Kleinkinder in die Dunkelheit des Waldes.

      Gai hatte versucht, in der Scheune ein Versteck zu finden, war aber von einem Ork entdeckt und niedergestreckt worden.

      Er erinnerte sich daran, wie die Keule des Unholds seinen Kopf getroffen hatte.

      Das letzte Geräusch, welches seine Ohren vernommen hatten, war das Knirschen seines Schädels gewesen, der dem Schlag nicht standhalten konnte und gebrochen war.

      Ich müsste tot sein, fuhr es ihm durch den Sinn!

      Doch als er erneut nach der Wunde tastete, spürte er außer dem geronnenen Blut zwischen seinen Haaren nichts von einer Wunde.

      Was mochte hier bloß vorgehen?

      Ein scharrendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren.

      Einige Schritte entfernt war eine gebückt gehende Gestalt zwischen den Häusern hervor gekommen.

      Gai hörte, wie das Wesen zu schnüffeln begann und sich dann langsam auf ihn zubewegte.

      >>Kann dich riechen, << grunzte der Ork mit heiserer Stimme, >>komm raus da! <<

      Er zog ein schartiges Messer und fuchtelte damit in der Luft.

      >>Kannst nich‘ weglaufen, du, << zischte er.

      Gai, der wusste, dass es aus der Scheune keinen anderen Ausweg gab, trat auf die Straße und hob die Hände.

      >>Jaaaa, << rief der Ork lachend, >>so ist’s gut. Hand hoch, keine Waffe! Wirst lecker schmecken, glaub ich! <<

      Der Unhold trat noch etwas näher an Gai heran, so dass sein stinkender Atem den Jungen streifte.

      Er holte aus, um Gai das Messer zwischen die Rippen zu stoßen, doch in diesem Moment übernahm etwas anderes die Kontrolle über den Körper des jungen Mannes.

      Mit der linken Hand wehrte er den Schlag ab, während die Rechte, zur Faust geballt, vorschnellte und den Ork an der Kehle traf.

      Dem Monster entglitt die Klinge, es ging röchelnd und nach Luft schnappend auf die Knie, doch Gai zögerte nicht, war mit einem Schritt hinter dem Ork, packte dessen Kopf und drehte ihn ruckartig zu sich herum. Ein leises Knacken ertönte, dann sank der tote Ork in den Staub.

      Gai blickte ungläubig auf seine Hände, dann auf den Leichnam und wieder auf seine Hände.

      Er hatte noch nie zuvor getötet, erst recht nicht auf diese Weise.

      Nie hatte er gelernt, so zu kämpfen. Er war immer ein Schleicher, ein Sprinter gewesen, kein Schläger oder Haudrauf.

      Doch er spürte, dass etwas Neues in ihm war. Und dieses etwas hatte für einen Moment die Oberhand gewonnen. Das Resultat davon war ein toter Ork.

      Gai bückte sich und durchsuchte den Leichnam.

      Viel hatte der Ork nicht bei sich, nur zwei weitere Messer, die Gai an sich nahm.

      Ihm wurde klar, dass er sich ausrüsten musste, denn hier in der Stadt konnte er nicht bleiben.

      Bald würden hier sowieso nur noch qualmende Ruinen stehen.

      Außerdem spürte er tief in seinem Inneren, dass er gehen musste.

      Weitere Erinnerungen, die aber nicht seine waren, stiegen in ihm auf.

      Er musste Warma verlassen, um jemanden zu suchen, ging es ihm durch den Sinn.

      Wen er suchen musste? Er wusste es nicht, aber zu gegebener Zeit würde er auch dies erfahren.

      Er hatte das Gefühl, dass jene, die er suchen musste, zu seiner Familie gehören würden.

      Dabei hatte Gai aber nie eine Familie besessen, sondern war allein aufgewachsen, unter all den Halsabschneidern, Dieben und Dirnen dieser Stadt.

      Woher also kam dieses Gefühl der Sehnsucht, des Vermissens?

      Der Drang schien übermenschlich groß zu sein, er hätte sich ihm auch dann nicht widersetzen können, selbst wenn er es gewollt hätte.

      Drei Stunden später huschte Gai lautlos durch das Unterholz des Waldes.

      Auch wenn der Frühling in anderen Teilen des Kontinents bereits Einzug gehalten hatte, hier im Norden, so dicht am Wall und dem dahinter liegenden Eisland, hatte der Winter das Land noch fest im Griff.

      Schnee bedeckte die Wiesen und Felder, hing als gefrorene Zapfen von den Ästen und der Frost ließ die Erde nicht aus seinen eisigen Klauen.

      Gai hatte eine Route nach Südwesten eingeschlagen, als er festgestellt hatte, dass die Orks sich Richtung Südosten weiterbewegt hatten. Zumindest ihre Hauptstreitmacht marschierte dorthin, aber es war dem jungen Dieb nicht entgangen, dass eine zweite Spur nach Norden führte, zurück also in die Richtung, aus der der Feind gekommen war.

      Mit Grausen erinnerte er sich an die Schreie der Kinder, die von den Orks und ihren Hunden verschleppt worden waren. Wahrscheinlich brachte man sie in Richtung des Walles, dem mächtigen Gebirge, welches sich von der Ostküste des Kontinents bis zur Westküste erstreckte und das fruchtbare Land von der tödlichen Eiseskälte des Eislandes trennte.

      Es gab kein höheres, gefahrvolleres Gebirgsmassiv und nach dem, was man sich erzählte, gab es auch nur einen Pass, der darüber hinweg führte. Allerdings war dieser Spalt zwischen den Bergen nicht minder gefährlich, denn das ewige Eis des Nordens ragte wie eine Gletscherzunge dort hinein

      und machte das Reisen fast unmöglich. Selbst in den Sommermonaten schmolz der Schnee dort angeblich nicht.

      Hatten