Hartmut Witt

Steine der Macht


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nahm sich sein Essen ohne Dank und war unter den Menschen unbeliebt. Seit einem Jahr fehlt jede Spur von ihm. Er scheint von der Insel verschwunden. Die Wächter des Schutzwalls nahmen wahr, dass dort jemand einen Unsichtbarkeitszauber sprach. Wir nehmen an, dass es Graf Grego war, um sich mit einem Boot unerkannt von der Insel zu entfernen.“

      Amon fiel unweigerlich die Geschichte mit dem Samobaliki in der Gesellschaft der Dumpos ein. Und wieder las die Durha seine Gedanken: „Wir wissen nicht, wo sich Graf Grego aufhält. Die Welt außerhalb Samobalis entzieht sich unserer Blicke. Wir werden Michelunka fragen. Vielleicht kann er uns helfen, den Verbleib von Graf Grego aufzuklären. Im Zusammenhang mit deinem ersten Traum lässt sich Schlimmes erahnen. Doch noch haben wir keine Gewissheit, was sich hier zusammenbraut.“ Damit endete die Unterhaltung.

      Die Durha zauberte ein phantastisches Mahl auf den Tisch, das die beiden mit Genuss verzehrten. Zum Abschied wurde Amon von der Durha nochmal kräftig gedrückt. Dann bestieg er seinen roten Fuchshengst Jojo und ritt mit den Segenswünschen der Durha zurück ins Tal. Der sprechende Kolkrabe begleitete ihn ein gutes Stück des Weges und allerlei Kapriolen von sich gebend, so dass Amon immer wieder lachen musste. Der Kolkrabe kicherte dabei schelmisch und gab den nächsten Unfug von sich. Es war fast so, als ob der Rabe ihm mit seinen Späßen auf andere Gedanken bringen wolle. Tatsächlich befreite sich Amon für eine kurze Zeit von der Schwere seines Herzens. Fast im Isental angekommen flog der Kolkrabe in Richtung Mon Gabon zurück und rief noch ein albernes „Bussi, Bussi“ zum Abschied.

      Schneller als geglaubt kehrte Amon ins Vogelhaus zurück und bereitete ein warmes Abendessen für seine an diesem Tage ohne ihn arbeitenden Hausgenossen. Nun begannen seine Gedanken zu kreisen. Er dachte über die Worte der Durha nach, bis Britta, Linus und Mikel fröhlich lärmend heimkehrten.

      7. Rottas

      Freilich musste Amon berichten, was er bei der Durha erfahren hatte. Reichlich erstaunt waren seine Hausgenossen über die plötzliche Herausforderung, die sich Amon stellte und auch darüber, welche Wertschätzung Mira im Kreise der Magier genoss. Amon wechselte das Thema, indem er seine Genossen über deren Baufortschritte befragte. Aber es dauerte einige Tage, bis nicht mehr andauernd darüber gesprochen wurde.

      Mira war für ein paar Tage gekommen. Sie hatte Moran mitgebracht. Moran war ein begnadeter Musiker, der eine große Anzahl Instrumente beherrschte. Er widmete sich hauptsächlich der Musik und trat bei Festen mit seiner Gruppe auf. Aber er half den Hausgenossen ab und zu beim Hausbau oder den Bauern beim Anbau der Früchte und des Getreides auf den Feldern. Er wohnte wie Mira in Citta und war der Freund von Britta. Auch Ult hatten sie mitgebracht.

      Mira, Ult und Amon nutzten die Gelegenheit, um sich über den Vorschlag der Durha zu beraten. Alle Drei waren gewillt, die Aufgabe anzunehmen, wenn ihnen diese genauer erklärt werden würde. Mira würde ihre Meisterin fragen, zu welchem Ergebnis der Rat der Magier gelangt sei.

      Es kam der Tag der Götter. Britta hatte die Idee, diesen am Meer zu verbringen. Für den kürzesten Weg würden sie über den Pass von MonTark hinunter ins Tal nach Talipo reiten müssen. Dort könnten sie dem Flusslauf bis zum Meer folgen. Sie brachen in der Dämmerung des Morgens auf und würden etwa vier Stunden reiten. Sie wollten den Tag und die Nacht unter freiem Himmel verbringen und am nächsten Tag zurückkehren. Es war keine Wolke am Himmel zu sehen, Regen war nicht zu erwarten. Im schlimmsten Fall könne man in einer Höhle Unterschlupf finden.

      Entspannt ritten die sieben jungen Samobalikis mit ihren Pferden den steilen Pass den Mon Tark hinauf. Auf dem Pass angekommen pausierte die Gruppe. Man ließ die Pferde, die die Last des Anstiegs trugen, grasen und aus Gebirgsquellen Wasser trinken. Sie selbst aßen von dem mitgebrachten Brot und Obst. Der Ausblick war phantastisch. Im Westen sah man das Tal von Talipo und das Meer. Auch im Norden konnte man über die sanften Hügel hinweg auf das Meer hinaussehen. Im Osten sahen sie den Lichtsee leuchtend glitzern, an dessen Ufern die große Stadt Citta lag. Dahinter mäanderte der sich windende Auslauf des Lichtsees, der ebenfalls ins Meer mündete. Der Blick nach Süden offenbarte die noch höheren Gipfel der Berge. Die Berghänge waren allesamt bewaldet, nur die höchsten Spitzen strahlten kahlfelsig empor. Den höchsten Berg Mon Föt mit seinen über 2.000 Metern Höhe krönte gar ein Kranz aus Schnee.

      Die nächste Etappe war der Abstieg ins Tal. Unten angekommen ritten sie im fröhlichen Galopp nach Talipo ein. Sie kauften ein paar Köstlichkeiten im wunderschönen Ort ein und setzten ihren Weg im lockeren Trab fort, bis sie das Meer erreichten. Frohlockend rissen sie ihre Kleider vom Leib und rannten über den weißen Sand ins Meer, um lachend und singend zu baden und zu schwimmen. Die Pferde freuten sich an dem saftigen Grün, unweit des Ufers, in den Auen des Ach. Mikel und Ult stiegen in Ufernähe auf die Klippen und schauten aufs Meer hinaus.

      Die Sonne hatte ihren Höhepunkt gerade erreicht, als Mikel und Ult vom Felsen herab riefen: „Ein Schiff kommt!“ Die übrigen hatten das Schiff noch nicht bemerkt. Ult besaß ein Fernrohr und spähte hinaus. „Das ist kein Schiff aus Samobali!“, rief er. „Es ist eines der Transportschiffe der Dumpos!“, stellte er fest. „Wie das?“, kam es fast einstimmig von den anderen entsetzt zurück. Geschwind kamen sie herbeigelaufen. Jeder wollte durch das Fernrohr sehen, um einen Blick auf das sich schnell nähernde Schiff zu werfen. Es hatte keine Segel, sondern große Wasserräder, die sich drehten. Rauch stieg vom Schiff auf. „Wie, zum Teufel, kamen die durch den Schutzwall?“, entfuhr es Amon. Es hatte sich soweit genähert, dass man durch das Fernrohr Blicke auf die Besatzung werfen konnte. „Das sind keine Dumpos!“, erkannte Ult als Erster. „Es sind Rottas an Bord!“, verkündete er unheilvoll. „Was tun wir?“, fragte Mikel in die Runde. „Wir warnen die umliegenden Orte!“, rief Britta. Linus ritt zurück nach Talipo, Mikel nach Norden in das Küstendorf Fitzendamm, Britta nach Süden in das Dorf Lakota. Die Übrigen warteten auf das Schiff und überlegten, wie man diese nicht willkommenen Eindringlinge aufhalten könnte.

      Angestrengt wägten die Vier ab, was zu tun sei. Mira dachte darüber nach, welche Zauber sie einsetzen könnte, um die Ankömmlinge zu vertreiben. Amon schlug vor, sie mit etwas Unerwartetem zu überraschen. Wirklich aufhalten würden sie die Meute wohl nicht. Sie wussten nicht einmal, was diese vorhatten. Ult schätzte, dass sich etwa dreihundert Rottas an Bord befänden. „Mit diesen würden wir schon fertig werden. Wir müssen nur verhindern, dass sie in die Höhlen der Berge gelangen und sich dort festsetzen.“ Sie schauten sich um. Die Hänge der anliegenden Berge waren voller von Höhlen. Einige waren bewohnt von Zwergen, die in den Bergen Minen und Schmieden betrieben. Wie schnell konnten die Menschen aus den Nachbarorten, die seit über dreißig Jahren in Frieden lebten, eine Kampftruppe zusammenstellen? Man hatte sich auf die Zauberkraft der Magier verlassen, deren Schutzwall bisher keine feindlichen Völker durchließ. Kaum jemand war kampferfahren. Die Rottas dagegen waren allesamt räuberische Krieger, ob Männlein oder Weiblein. Würden die Magier so schnell reagieren können, oder könnten sie auf Hilfe aus der für Normalsterbliche unsichtbaren Welt hoffen?

      Ult erklärte weiter: „Das Problem mit den Rottas ist, dass sie sich rasend schnell vermehren. Sie bringen im Jahr etwa sechzehn Junge zur Welt. Die Jungen sind bereits nach einem Jahr geschlechtsreif. Dann stünde uns eine Bevölkerungsexplosion bevor. Sie rauben alles Essbare, verwüsten die Felder und greifen die Menschen an. Zur Not fressen sie auch Menschen. Die Rottas machen vor nichts Halt!“ „Wir werden das verhindern!“, sagte Mira entschlossen. Das Schiff war inzwischen so nahe gekommen, dass man die Rottas mit bloßen Augen erkennen konnte. Amon entdeckte zwei Gestalten, die nicht wie Rottas aussahen. Sie schienen doppelt so groß. „Es müssen Menschen unter Ihnen sein!“, sagte er leise. Auch die anderen hatten diese nun entdeckt. Aus dem nächstgelegenen Fitzendamm hörte man Signalhörner, nicht allzu lange später antwortete Talipo und letztlich, kaum hörbar, das weiter entfernte Lakota. Die Genossen waren angekommen.

      Die Signale wurden auch von den Rottas gehört. Sie erwiderten ein schauriges Pfeifen, dem ein rhythmisches Klappern mit Knochenwaffen und Klopfen auf dem Blechschiff folgte. Das Tempo des Schiffes verlangsamte sich. Sie waren kurz davor, an Land zu gehen. Anker wurden ausgeworfen und kleine Boote ausgesetzt, in denen Rottas Platz nahmen und begannen, Richtung Land zu rudern. Sie sahen auch die beiden Menschen in ein Boot steigen. In ihrer Mitte befand sich eine kleinere Person, möglicherweise