Tilmann A. Büttner

Adam Bocca im Wald der Rätsel


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gestellten Hotels erfreuten sich stetiger Beliebtheit.

      Für Adam war das nichts. Die Stadt, seine Heimat und sein Lebensraum, bot ihm im Leben alles. Er hatte sie in seinem Leben genau dreimal verlassen. Es waren immer Ausflüge gewesen, an denen er hatte teilnehmen müssen, unbequeme Wandertage, in den höheren Klassen verbunden mit sterbenslangweiligen Übernachtungen in künstlich urtümlichen Herbergen. In diesem Sinne konnte die Stadt für Adam nicht einmal Heimat sein: wer kann eine Heimat haben, der eine Fremde nicht kennt, oder wenigstens erfolgreich ignoriert hat? Genau so, wie es zu seiner Daseinsbedingung des Lebendigseins, des frohen vor sich Hinlebens bei guter Gesundheit ohne die Spur materieller Not keine denkbare Alternative gab, war ihm nichts anderes als die Stadt vorstellbar als der physische Ort seiner Existenz. Welchen Reiz das Land, eine bloße Abwesenheit der hilfreichen städtischen Strukturen, haben könnte, erschloss sich ihm nicht. Allerdings interessierte sich kaum jemals einer seiner Altersgenossen für das Land, so dass auch keine Denkanstöße für etwaige Vorteile des Landes von ihnen zu erwarten waren. Was wohl Stella in dieses Sporthotel, auf der Schnellstraße eine gute Autostunde von Kys entfernt, verschlagen haben mochte? Sie hatte nichts weiter erklärt, ihm nur den Navigationscode und die Anschrift durchgegeben. Geleitetet von seinem Verkehrssystem brauste er ihr entgegen.

      Lange zog sich die Straße durch die peripheren Gewerbe- und Industriebetriebe. Auf die wenig störenden Logistik- und Handelszentren folgten Kraftwerke und Fabriken, schließlich der äußerste Ring, die zahlreichen Nahrungsmittelproduktionen: Riesige computergemanagte Treibhäuser und Ställe, in denen Pflanzen und Tiere unter optimierten Bedingungen, so artgerecht und so schnell wie möglich heranwuchsen. Nicht so sehr Sonne, Luft und Wasser, sondern vor allem die reichlich aus den Fusionsreaktoren der Kraftwerke strömende elektrische Energie bildete die Basis der hoch entwickelten Nahrungsmittelproduktionen und damit die Lebensgrundlage für die Menschen der Stadt. Auf denkbar kleinstem Raum wuchsen die Pflanzen und Tiere heran, wurden zu weitgehend vollständig zubereiteten Speisen und Getränken weiterverarbeitet und fertig für den Transport bereitgestellt. Weil Waren und Arbeiter auf Monobahnen und Expressschwebern von und zu den Nahrungsmittelproduktionen gebracht wurden, bestand der Verkehr auf der hier nur noch vierspurigen Schnellstraße an dieser Stelle bereits ausschließlich aus den wenigen Fahrzeugen, die zwischen den touristischen Unterkünften und der Stadt verkehrten. Weil es für den Schwung neuer Wochenendausflügler noch zu früh am Freitagnachmittag war, fuhr Adam auf seiner Spur nahezu allein, vor und hinter ihm kein Auto, so schnell wie es das Verkehrssystem unter automatischer Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit eben zuließ – mit kleiner Zulage, jeder Junge mit ein bisschen Ahnung von Computern konnte da was drehen. Dabei blieb ihm viel Zeit, sich die vorbeirauschende Stadtperipherie genau anzuschauen.

      Nicht nur, dass er zum ersten Mal freiwillig aufs Land fuhr, nein, zum ersten Mal war er neugierig auf eine Gegend, die außerhalb des Zentrums und der inneren Stadtbezirke von Kys lag, also jenseits seines Lebensraums, den er nur ganz selten verließ, wenn es sich etwa nicht vermeiden ließ, irgendetwas in einem im Gewerbegebiet gelegenen Handelszentrum zu erledigen. Die Nahrungsmittelproduktionen kannte er aus der Schule, hatte auch einmal im Netz darüber nachgelesen, in natura gesehen hatte er sie noch nie. Sie waren viel riesenhafter, als er sie sich anhand der Fotos und Darstellungen im Netz vorgestellt hatte. Hunderte von Metern lange Gebäudekomplexe aus schlichten Betonmauern, schmucklos aber in zurückhaltender Weise fröhlich und ansprechend, mit kräftigen Anstrichen in warmen, von grün und braun bestimmten Farbtönen. Darüber steil aufragende Glasdächer, mit Spezialscheiben zur Speicherung der Sonnenenergie, oder die flachen Kuppen der Stallungen, in denen Schweine, Rinder, Puten, Hühner als Hochleistungslieferanten für Fleisch, Milch und Eier gehalten wurden. Die Größe der Stadt konnte Adam am Ausmaß dieser Versorgungsquelle ihrer Einwohner besser begreifen als aus jeder Statistik. Nun führte die Straße hinab in eine letzte Einhausung vor der Stadtgrenze. Als Adams Wagen wieder an die Oberfläche gelangte, hatte er Kys hinter sich gelassen. Zur rechten noch einige Gebäude, die letzten Ausläufer der Zentralen Rinderzuchtanstalt, wie eine Leuchtschrift verriet, zur linken ging eine struppige, von schwarzen Erdflecken durchsetzte Weide in eine schilfbestandene Fläche über, aus der verloren Krüppelbäumchen ragten. Jetzt hatte auch auf der rechten Seite die Bebauung aufgehört wie abgeschnitten, mittelgroße Birken reihten sich zu einem unregelmäßigen Hain in fünf bis zehn parallel zur Fahrbahn verlaufenden Linien auf.

      Ob Adam die in saftgrünem Laub stehenden Bäume mit ihrer leuchtend hellen Rinde als Birken erkannte? Das möchte ich bezweifeln. Doch er sah auch, was er nicht kannte und bestaunte es mit leiser Überraschung. So viele Bäume an einer Stelle, es kam ihm seltsam vor und gleichzeitig merkte er, wie albern so ein Gedanke war für einen Bewohner von Kys, der die schönen Parks der Stadt so gut kannte wie die Informationen aus dem Netz über die Wälder und Haine in der Nachbarschaft der Stadt. Die Birken standen zunehmend dichter. Aus fünf bis zehn Reihen mochten zwanzig oder mehr geworden sein, die andere Seite des lichten Wäldchens war nicht mehr auszumachen. Hell und freundlich stand es da, fremdartig aber einladend, kein erkennbarer Weg führte hindurch. Abrupt endete das Birkenwäldchen, auch auf der linken Seite lag wieder nur flache Weide, die als einzige Abwechslung wenige unregelmäßige Büsche trug.

      Adam wählte aus dem Unterhaltungssystem eine beliebige betont rhythmische und fröhliche Platte aus, damit ihm die Fahrt nicht zu langweilig würde. Im Gewummere der Trommeln und Synthesizer wanderten seine Gedanken von der Neugierde über die Landschaft wieder zu Stella und der Überlegung, wie es ihr wohl hatte passieren können, auf dem Land in einem Sporthotel festzusitzen. Bald aber ertönte aus dem Verkehrssystem ein Hinweissignal, Adam blickte auf die kleine, in die mittlere Anzeige projizierte Straßenkarte: aha, er hatte das Ende der ausgebauten Schnellstraßenstrecke erreicht, hier ging die Straße in eine einfache zweispurige Strecke über, die Fahrtrichtungen nur durch Sicherheitshinweisgeber voneinander getrennt. Adam verlangsamte seine Fahrt, die Straße wurde nicht nur schmaler, sie führte jetzt auch in ersten sanften Kurven um Erhebungen, die sich ab hier aus der Ebene erhoben. Links von ihm erstreckte sich nun eine sanft geschwungene Hügelkette, mit dichtem Wald bestanden, der beinahe bis an die Fahrbahn heranragte und nur einen schmalen, mit schütterem Gras bestandenen Streifen zur Straße hin freiließ. Rechts führte ein kleiner Abhang hinunter zu einer Baureihe, hinter der Adam einen kleinen Bachlauf oder einen Fluss erkennen zu können meinte. Wald und Baumreihe wirkten auf ihn viel lebendiger als die Birken am Stadtrand, grüner und dichter stehend, fast mochte er zwischen den Bäumen kleine Tiere und Vögel huschen sehen. Der Wald zur linken ließ ein paar wenige Nadelbäume am Rand erkennen, die so etwas wie einen Vorhang zum Waldrand hin bildeten, unmittelbar dahinter begannen die dickstämmigen Laubbäume mit ihrem festen Geäst und ihrer dichten dunkelgrünen Laubkrone darüber. Aus dem fahrenden Auto konnte er ohnehin kaum einen Blick in den Wald hinein erhaschen, aber er sah doch, dass dort auch bei hellem Sonnenschein eine schimmernde Dunkelheit herrschte. Mit an die Sonne gewöhnten Augen hätte auch ein stehender Betrachter nichts im Wald erkennen können.

      „Wie finster es dort ist“, dachte Adam, „nichts und niemand zu erkennen, auch wenn da wer nur ein Dutzend Schritte von der Straße entfernt stünde.“ Aber wer sollte denn da auch stehen? Wieder kamen ihm seine Gedankenflüchte albern, ja kindisch vor. Hier fuhr er in seinem Auto mit optimiertem Innenklima bei lauter Hitparadenmusik dahin, und da draußen war es eben das Land, nicht die Stadt, die ihn umgab. Und wenn schon, keine halbe Stunde Fahrt lag seit der Stadtgrenze hinter ihm, etwa in der Mitte zwischen der Stadt und seinem Ziel befand er sich gerade, also immer noch mitten in der zivilisierten Ordnung von Kys. Und doch, sind da nicht ganz bestimmt Tiere da draußen im Wald? Er hört und sieht sie nur nicht, das Licht ist hier auf der Straße zu hell und die Musik zu laut, um etwas im Wald wahrnehmen zu können, aber es ist bestimmt etwas dort. Vögel eben, die werden jetzt aufgeregt zwitschern, wenn so ein Autoelektromotor vorbeisurrt, kleine Tiere, die irgendwas nagen oder grasen oder so, vielleicht auch ein paar Wildschweine, obwohl die ja sehr scheu sein sollen. Oder sonst noch etwas? Oder jemand?

      Die nächste Kurve setzte ein, diesmal rechts herum, mit deutlich engerem Radius als zuvor. Da hat es schon seine Berechtigung, wenn das Verkehrssystem runterbremst, man sieht ja nicht, was hinter der Kurve liegt. Der Wald stand noch dichter und höher, jetzt auch von rechts. Der Abhang zum Bach hinunter war einem weiteren Waldrand neben einem schmalen Standstreifen gewichen, er fuhr nun mitten hindurch. Höher und höher umstanden die Bäume nun die Straße,