Günther Seiler

Tod auf dem Sockel


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würde sie sich vor ihrem nächsten Auftritt mit dem Kostüm noch ein wenig ausruhen. „Ist das Ihre Tochter?“, hörten sie Hans Uckermann fragen und sie nickten nur beide stumm. Michael Gruber legte die Hände vor sein Gesicht und fing hemmungslos zu weinen an. Beim Verlassen des Raumes sagte der sichtlich erschütterte Hans Uckermann zu den Eheleuten: „Wir haben keinen Hinweis, was geschehen ist und das soll genau von uns ermittelt werden. Ob Ihre Tochter an einer Krankheit verstorben ist oder was genau vorfiel, müssen wir klären. Es sind keinerlei äußere Merkmale von einer Gewalteinwirkung sichtbar. Der zuständige Staatsanwalt ordnete eine Beschlagnahme Ihrer Tochter an.“ Er vermied das Wort Leiche. „Wir werden sie in die Gerichtsmedizin fahren und Sie hören von uns, wann Sie Ihre Tochter abholen können.“ Die Polizei fuhr die Eheleute heim und sie fragten vorher, ob sie einen Arzt verständigen sollten, was die Eheleute Gruber aber nicht wollten.

      Kapitel 6 Rostrumersiel an der Nordsee

      Auf der Bundesstraße 73 zwischen Otterndorf und Cuxhaven lag direkt an der Nordsee der Fischerort Rostrumersiel. Dieser Ort hatte schon eine lange Fischereivergangenheit. In früheren, alten Zeiten fuhren die Trawler der Firma Hochseefischerei Claasen zum Fischfang von Rostrumersiel mit den Walfängern bis hinauf nach Grönland. Der Betrieb der Firma Claasen lag in den Händen der dritten Generation und heute fuhren die modernen Fischverarbeitungshochseeschiffe wieder bis Grönland, aber auch zu den Färöern und bis Spitzbergen. Auch vor den Lofoten in Norwegen durften sie nach den Fangrechten der Europäischen Union auf Fischfang gehen. Die großen Fischfabriken kamen zur Löschung des Fanges nach Tromsö in Norwegen, damit sie sich den langen Weg nach Rostrumersiel ersparten. Von Tromsö aus fuhren sie wieder zu ihrer Arbeit zurück nach Spitzbergen und Grönland. Die Firma Claasen unterhielt eine eigene große LKW Kühlflotte und sie holten ihren Fang selber in Tromsö für den Transport nach Rostrumersiel ab. Ein weiterer wichtiger Zweig dieser alten Firma war der Fischfang von Garnelen aus der Nordsee, auch je nach geografischer Lage in Deutschland Krabben oder Granat genannt. Der Fang wurde auf See gekocht und mit den Trawlern nach Rostrumersiel zur Fischverarbeitung Claasen gebracht, wo Kühllastkraftwagen die Fracht übernahmen. Jeder LKW brachte vierzig Tonnen Krabben zum Schälen, auch im Norden Puhlen genannt, nach Marokko. Es wurden auch die Krabben der Konkurrenz gegen Bezahlung mitgenommen. Die Fahrzeuge fuhren über Brüssel, Paris bis zur Fähre Algeciras in Spanien und dort über Ceuta bei Tanger in Marokko. Die Stadt Ceuta lag zwar in Marokko, gehörte aber zu Spanien und somit zur Europäischen Union, unterlag aber nicht dem Zollbezirk der EU. Das war eine einmalige Besonderheit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Bis hier fuhren die LKW aus Rostrumersiel die insgesamt sechstausend Kilometer lange Strecke hin und zurück.

      Wilfried Claasen war mit seinem Vater und seinem Bruder Kuno einer der Inhaber dieser Firma. Er konnte aber nicht wie die anderen Familienmitglieder am Schreibtisch sitzen und arbeiten. Ich brauche Bewegung und am besten fühle ich mich auf dem Fahrersitz meines LKW, da bekomme ich den Kopf frei. Ich folge dem Ruf der Landstraße, schon Tage vor einer anstehenden Fahrt nach Marokko war ich nervös und kribbelig. Aber wenn ich den Diesel des LKW anlasse, das beruhigende Motorengeräusch höre, bin ich gelassen und zufrieden. Ich brauche keine Therapiecouch eines Psychiaters, meine Fahrerkabine in meinem LKW erfüllte durchaus auch diesen Zweck als mein zweites Zuhause. Diese Fahrerkabine hatte Wilfried auch mit entsprechenden Utensilien aus Amerika ausgestattet. Einmal hatte sich während der Fahrt die amerikanische Flagge an der Rückwand seiner Kabine gelöst und diese war ihm durch den Fahrtwind der geöffneten Beifahrerscheibe über sein Armaturenbrett geflattert. Es hätte nicht viel gefehlt und vierzig Tonnen frisch gefangene Krabben wären auf die Autobahn mit einem riesen Schwall gelandet. Aber es ging zum Glück alles gut. Er fühlte sich wie ein Trucker auf dem Highway in den Weiten von Amerika oder Kanada. Seitdem fuhr der Straßencowboy auch mit der entsprechenden Truckermusik auf Musikträgern von Rostrumersiel turnusmäßig die Krabben von vierzig Tonnen nach Marokko.

      Die Firma Claasen hatte auf dem Betriebsgelände in Rostrumersiel ganz moderne Fischverarbeitungs – und Kühlanlagen und sogar eine moderne Krabbenpuhlmaschine war in Betrieb, aber bei den Mengen an Krabben war der Puhltourismus nach Marokko viel billiger. Sein Bruder sagte einmal, die Krabben von uns hatten eine längere Wegstrecke auf dem Buckel, als manche unserer Kunden im Leben jemals schaffen werden. Die Firma Claasen nannten fünfzig Schiffe unter ihrer Flagge ihr Eigentum. In der Hauptsaison waren dort mit dem bisherigen Personal sechshundert Menschen beschäftigt, darunter fuhr allerdings die Hälfte zur See. Die Firma Claasen war für die hiesige Region schon ein großer Arbeitgeber, der auch für wichtige Steuern sorgten. In der Ferienzeit war die Aushilfsarbeit bei Schülern und Studenten dort gefragt, denn die Bezahlung war überdurchschnittlich gut. Man bekam zwar einen Job, der mit Fisch zu tun hatte, doch frischer Fisch roch nicht und nach der Arbeit am Band konnte man ja duschen, sowie sich saubere Kleidung anziehen.

      Wilfried Claasen fuhr an dem Pförtner seiner Firma vorbei, der ihm die Schranke öffnete. Wilfried winkte aus dem offenen Fenster seines Autos dem Pförtner zu, danach suchte er den Parkplatz seines LKW auf. Er fuhr immer denselben LKW. Er schwörte darauf, was sein Fahrzeug betraf, auf eine amerikanische Lastkraftwagenfirma. Von dieser Firma bezogen die Classen schon seit Jahren alle ihre Fahrzeuge. Diese mächtigen Zugmaschinen waren auf den Autobahnen durchaus bekannt und wurden bewundert. Die Fahrzeuge waren alle immer sehr gepflegt. Er meldete sich im Büro für die Fahrt an, nahm die Ladepapiere für vierzig Tonnen Krabben an sich. Auf dem Rückweg bekam er in Marokko keine Krabben als gepuhlte Ladung wie die anderen Lastwagen der Firma Claasen als Rückladung mit, sondern frischen Fisch. Seine Ladung waren dreißig Tonnen Victoriabarsch, der aus dem Viktoriasee von Uganda und Tansania stammte. Der Victoriabarsch war eine absolute Delikatesse. Das sah man auch daran, dass die komplette Ladung schon vorher verkauft war. Mit dem Flugzeug wurde der Fisch auch nach Marokko angeliefert. Dazu fuhr Wilfried mit seinem Kühllastkraftwagen zum Flughafen nach Tanger. Er musste den Zollbezirk von Ceuta, also spanisches Hoheitsgebiet verlassen und nach Marokko einreisen. Das war aber alles kein Problem, denn der örtliche Spediteur kümmerte sich um alle Zollformalitäten, zumal die Krabben zum Puhlen auch nach Tanger von der Firma Claasen angeliefert wurden.

      Es war aber nicht der einzige Grund, der Wilfried nach Tanger führte. Genau genommen gab es noch zwei weitere wichtige Gründe für Tanger. Einige Fahrer lachten schon über ihn und meinten, er würde dort eine Freundin haben, eine ganz hübsche mit Mandelaugen, die er aber nicht mit nach Rostrumersiel mitbringen möchte. Zeig sie uns doch mal, witzelten die Fahrer auf dem Platz in der Firma in Rostrumersiel. Sie lagen nicht ganz falsch, die lieben Kollegen, er hatte tatsächlich eine Freundin in Tanger. Es war die Tochter des Inhabers der örtlichen Werkstatt für Lastwagen.

      Er sah sie das erste Mal, als er sein defektes Fahrzeug dorthin bringen musste, weil die Kühlung schon in Spanien ausfiel. Die ganze Wagenladung musste als Fischfutter verarbeitet werden, weil die vorgeschriebene Kühlgradzahl nicht voll erreicht wurde, somit war die Kühlkette unterbrochen. Ein Fall für die Versicherung und ein Fall für sein neues Leben. Als er sie in Tanger kennenlernte und sie vor seiner Heimreise an seinem LKW stand, ihn ganz liebevoll verabschiedete, wäre er beim Aufsteigen in sein hoch gelegenes Führerhaus beinahe von dem letzte Tritt zu seiner Fahrerkabine kurz vor der Tür auf die Erde gefallen. Beim Ausparken mit seinem großen LKW rammte er zu allem Unglück ein volles Ölfass. Das ganze teure Motoröl lief aus. Ihr Vater, der Inhaber dieser Werkstatt, sah die Prozedur und verzweifelte wohl, wie dieser stümperhafte Fahrer überhaupt von Marokko jemals wieder nach Deutschland kommen wollte. Er schimpfte laut auf Arabisch, als hätte man ihm ein dreibeiniges Kamel angedreht. Dabei warf er seinen öligen Putzlappen auf den Boden. Das war vor einiger Zeit und jetzt traf man sich in Tanger in der Altstadt. Sein LKW war auf dem Platz ihrer Eltern gut aufgehoben und die Kühlung lief wunderbar, der Fisch blieb weiterhin frisch. Er nahm sich in Abständen auch schon einmal einen Mietwagen und sie fuhren nach Casablanca. Casablanca, welch ein Klang hatte diese Stadt in unseren Ohren.

      Es gab aber noch einen weiteren, wichtigen Grund, warum Wilfried Claasen hier einen kleinen Vorort in Tanger anfuhr. In dem Industrieviertel fuhr er eine Halle an, ein Tor wurde geöffnet und der LKW verschwand für eine kurze Zeit in der Halle, um dann auf der anderen Seite das Gelände wieder zu verlassen, um zur Fähre nach Spanien für den Rückweg zu fahren. Die Ladung der Victoriabarsche lieferte er auf dem Fischmarkt