Peter Gnas

Schlussstein


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haben wir lange gesprochen“, sagte Sikorski. „Wir wissen es natürlich nicht. Die Tatsache, dass der Täter sich einen Kindergarten als Ziel ausgesucht hat, zeigt, dass es wahrscheinlich seine Absicht war, größtmögliches Entsetzen in auszulösen. Ich bin der Auffassung, dass er mit einen weiteren Anschlag, Ähnliches zu erreichen versucht. Damit will er seinen Forderungen noch mehr Nachdruck verleihen. Natürlich kann so etwas auch in einer Schule stattfinden.“

      „Danke, Herr Dr. Sikorski“, sagte der Innenminister, „damit sind wir nun mitten in der Abwägung, die uns beschäftigt hat. Es wird morgen früh eine beträchtliche Zahl von Eltern geben, die Ihre Kinder zu Hause behalten. Die werden sie nicht in den Kindergarten und in die Schule schicken. Es wird aber auch viele geben, die nach unseren Äußerungen im Fernsehen doch an einen Gasunfall glauben und ihren Tagesablauf ganz normal weiterführen wollen. Die Abwägung heißt nun, schließen wir neben den Kindergärten auch die Schulen? Schließen wir alle Einrichtungen im Land Bremen oder im gesamten Bundesgebiet? Wenn ja, wie setzen wir das durch? Die Polizei wird da nicht ausreichen. Aktivieren wir dafür den Bundesgrenzschutz oder auch die Bundeswehr? Ist die Bundeswehr dabei bewaffnet, wie sie es im Inneren ja nicht sein darf? Was ist mit dem öffentlichen Nahverkehr, mit Krankenhäusern?

      Es war so still in der Runde, dass man eine Nadel hätte fallen hören.

      „Wir können unser Land ja nicht zum Stillstand bringen“, fuhr Offenbach fort. „Aber wer übernimmt die Verantwortung, wenn etwas passiert? Sollen Innensenator, Bürgermeister, Polizeipräsident und ich in diesem Fall zurücktreten? Löst das unser Problem? Wenn man auf die Forderungen eingeht, gibt es dann Ruhe oder fördert man damit weitere Abscheulichkeiten?“

      Minister Offenbach nahm einen Schluck Wasser. „Wir haben uns entschlossen, es morgen bei der Schließung der Kindergärten zu belassen. Sie alle arbeiten an exponierter Position und sind es gewohnt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Der oder die Täter stehen denen von New York in nichts nach. Diese Menschen sind zu allem fähig und deshalb kann jede Entscheidung, die wir hier fällen falsch sein. Wir haben uns darauf verständigt, dass jeder, der unsere Entscheidung nicht mittragen will, sich aus diesem Kreis zurückziehen kann. Von denjenigen, die hierbleiben, erwarte ich Loyalität und absolute Verschwiegenheit. Die Pflicht zu schweigen besteht natürlich auch für die, die jetzt gehen.

      Es entstand eine kleine Pause. Man wartete ab, ob irgendjemand gehen wolle. Schließlich erhob sich der Bürgermeister.

      „Meine Damen und Herren“, sagte er, „ich danke Ihnen. Dann lassen Sie uns gleich an die Arbeit gehen, alles zu koordinieren.“

      Senator Frankes Sekretärin hatte bereits die Senatorin für Soziales, Kinder und Jugend verständigt, dass sie in den Krisenstab kommen müsse. Sie solle eine vollständige Liste aller Kindertagesstätten erstellen lassen – auch von denen kirchlicher und privater Träger.

      Rotberg und der Polizeipräsident fuhren ins Präsidium, um die Runde beim Innensenator nicht unnötig zu vergrößern. Außerdem wollte man den Medien nicht signalisieren, dass es einen konkreten Plan für die nächsten Stunden gab. Rotberg bat Sabrina Hamm, ihn zu begleiten. Wesselmann beauftragte er, im Stab zu bleiben und weitere Maßnahmen telefonisch mit ihm abzustimmen.

      Als der Polizeipräsident, Rotberg und Sabrina Hamm das Haus verlassen wollten, bemerkten sie, dass sich der Kreis der Pressevertreter deutlich vergrößert hatte. Man erkannte von Berghausen und stürmte mit Mikrofonen und Kameras auf die drei zu. Dadurch, dass viele Medienvertreter ihre Fragen gleichzeitig stellten, war nichts zu verstehen. Was die Presse aber wissen wollte, war eigentlich klar.

      Von Berghausen blieb kurz stehen, Rotberg und Sabrina Hamm warteten hinter ihm stehend.

      „Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie so geduldig ausharren, um die Öffentlichkeit zu informieren. Sie möchten sicherlich wissen, was jetzt geschehen wird. Wir drei werden ins Polizeipräsidium fahren und uns nach dem Stand der Bergungsarbeiten erkundigen. Die Untersuchungen am Unglücksort müssen koordiniert werden. Ich bitte Sie, Ihre Fragen an den Innensenator zu richten, sobald er Ihnen wieder zur Verfügung steht. Vielen Dank.“

      Es gab ein Blitzlichtgewitter. Die Journalisten versuchten weitere Fragen beantwortet zu bekommen, die drei verließen aber zügig das Gebäude und eilten zu Rotbergs Dienstwagen.

      Sobald sie im Auto saßen, bat der Polizeipräsident Sabrina Hamm, sich an der Unglücksstelle nach dem Fortschritt der Untersuchungen zu erkundigen. Sie wählte die Mobilnummer von Grabert. Wenn einer an einem Tatort gründlich vorging, war er es – deshalb koordinierte er die Kripo vor Ort.

      Grabert meldete sich sofort. Sie hörte zu und machte sich Notizen in ihrem kleinen Heft. Von Zeit zu Zeit bestätigte sie das Gehörte mit einem ‚Hmm’.

      „Sie können den zweiten Explosionsort bestätigen. Die Laboruntersuchungen laufen noch. Nach allem, was man über solche Attentate weiß, geht er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Sprengstoff als Ursache aus.“

      „Ist der Tatort für die Öffentlichkeit gesperrt?“, wollte Rotberg wissen.

      „Ja, es versuchen zwar immer wieder Journalisten durchzukommen, sie konnten aber stets rechtzeitig abgefangen werden. Die Presse kann also, wie wir es angeordnet hatten, nicht mehr sehen, an welchen Stellen wir arbeiten. Damit dürfte auch der Täter im Fernsehen keine Rückschlüsse auf unseren Wissensstand ziehen können.“

      „Gut“, sagte von Berghausen, „dann rufen sie bitte die Einsatzleitung der Bereitschaftspolizei zusammen. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten im großen Besprechungsraum neben meinem Büro. Und man soll alle Beamten, die erreichbar sind, auf morgen früh vier Uhr zu ihren Revieren beordern. Auch diejenigen, die Urlaub haben oder gerade nicht im Dienst sind.“

      Sabrina Hamm rief an und gab alle Anweisungen des Polizeipräsidenten durch. Sie musste zweimal bestätigen, dass es wirklich alle Polizeibeamten sein sollten. Am Ende des Telefonats verdonnerte sie ihren Gesprächspartner zu absoluter Vertraulichkeit und wies ihn nachdrücklich darauf hin, dass auch sämtliche Polizisten Stillschweigen zu bewahren hätten.

      „Können wir die Namen und Anschriften aller Kindergartenleitungen rauskriegen?“ wollte Rotberg wissen.

      „Soweit ich es verstanden habe, wird Senator Franke das mit der Jugendsenatorin koordinieren“, meinte von Berghausen.

      „Ich schicke Wesselmann eine SMS in die Sitzung, dass wir die Daten schnellstmöglich brauchen“, sagte Sabrina Hamm und begann sofort zu tippen.

      Der Polizeipräsident unterrichtete die Einsatzleitung über die aktuelle Situation. Alle waren durch die Nachrichten informiert, dass es sich möglicherweise um einen Bombenanschlag gehandelt habe. Glauben wollte es niemand. Es gab immer wieder verrückte Anrufer, die sich zu etwas bekannten, was sie nicht getan hatten. Das Unglück im Erdbeerweg war zu drastisch – das konnte in ihren Augen nur ein Unfall gewesen sein. Die Geheimhaltung innerhalb der Polizei hatte offenbar gut funktioniert.

      Die nächsten Schritte wurden besprochen und während der Sitzung delegiert. In Bremen arbeiteten mehr als zweitausend Polizeibeamte – es war eine große Aufgabe, möglichst viele von ihnen um vier Uhr früh in die Reviere zu bekommen. Die Leiter der Dienststellen sowie alle erreichbaren Mitarbeiter der Kriminalpolizei wurden zu diesem Zweck ins Präsidium beordert. Man hatte nur wenig Zeit, diese Aufgabe zu bewältigen.

      „Wir müssen neben den Kindergarten-Leitungen auch die Schulleitungen informieren“, meinte Sabrina Hamm. „Es müssen Turnhallen vorbereitet werden, in denen wir die Kinder mit ihren Erzieherinnen unterbringen.“

      Im Präsidium befanden sich zur Stunde nicht mehr als zwanzig Personen. Das Wichtigste war zunächst, einen vernünftigen Krisenstab zu organisieren. Der Einsatzleiter der Schutzpolizei verließ mit Sabrina Hamm den Besprechungsraum, um zu telefonieren. Nach einer Dreiviertelstunde befand sich bereits eine beachtliche Mannschaft im Präsidium. Nach einer weiteren Stunde hatte man fast jede Kindertagesstätten-Leitung ausfindig gemacht. Sie wurden gebeten, sich um fünf Uhr am Morgen in der Polizeidienststelle einzufinden, die ihrer Einrichtung am nächsten lag.

      Jetzt