I. Tame

Bestiarium


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kann das Verreißen des Lenkers tödlich enden. Einen schrecklichen Moment lang scheint es, als würde Keno die Gewalt über das Motorrad verlieren. Er eiert kurz hin und her. Doch dann fängt er das Bike ab. Böses Hupen begleitet den röhrenden Motor des davonbrausenden Porsche.

      John ahnt, dass sich auch Keno mächtig erschrocken hat. Denn statt den Wagen weiter zu jagen, wartet er auf Jackson und zieht mit ihm gemeinsam von dannen. Immer noch zu schnell. Immer noch gefährlich ‚sportlich‘, doch kein Vergleich zu dem soeben vollzogenen Manöver.

      Aschfahl im Gesicht starrt Mika den immer kleiner werdenden Krafträdern hinterher.

      „Er hätte sich fast umgebracht“, stößt er geschockt hervor. Unter größter Anstrengung löst sich sein Blick von der Fahrbahn. Lucas Miene starrt ihm entsetzt von der Rückbank entgegen, als er sich umdreht.

      „Ich hatte ja keine Ahnung …“, keucht Jacksons Freund fassungslos. „Dass sie schnell fahren, … ja. Aber so …“

      Mika atmet flach, seine verschwitzten Hände reiben in gleichmäßigen Bewegungen über die Oberschenkel.

      „Dem ist scheißegal, ob er dabei drauf geht. Und ihm ist scheißegal, ob wir dabei zusehen. Das ist … ich kann das einfach nicht fassen. Ich glaub‘ nicht was ich da gerade geseh’n hab‘.“

      Mikas Krächzen ist geprägt von Fassungslosigkeit. Er ist zutiefst erschüttert.

      „Keine Angst, Kleiner!“, versucht ihn John zu beruhigen. „Ist ja alles gut gegangen. Nichts passiert!“ Seine Ruhe lässt ihn wie den sprichwörtlichen Fels in der Brandung wirken. Gott sei Dank!

      *

      Zehn Minuten später rollt der Wagen über knirschenden Kies auf einen schon ziemlich vollen Parkplatz. Am Ende des Platzes, unter einer großen schattenspendenden Eiche, stehen die Motorräder. Jackson und Keno hampeln wie zwei unter Speed stehende Junkies um die Maschinen herum. Sie lachen übertrieben laut, schubsen sich ständig und fahren sich nervös durch die Haare. Offensichtlich fällt es ihnen schwer, ruhig zu bleiben. Das Adrenalin trieft ihnen aus jeder Pore. John steigt aus und streckt einmal den ganzen Körper durch. Er blinzelt gegen die Sonne. Was für ein schöner Tag.

      Mika steigt gleichzeitig mit ihm aus und schafft es gerade noch, zehn Meter in die andere Richtung zu wanken, bevor er sich etwas abseits in ein dichtes Gebüsch übergibt. Seine Nerven sind wirklich nicht die besten. Ein schlimmeres Szenario hätte Keno ihm kaum bieten können.

      Luca rauscht wie ein Racheengel an John vorbei und auf Jackson zu. Er packt ihn und zieht den blauhaarigen Punk ein Stück zur Seite. Jacks zieht sofort den Kopf zwischen die Schultern. Wie ein getadelter Schüler lässt er Lucas gefauchte Wut über sich ergehen.

      John beobachtet die Szene wie ein Unbeteiligter. Wer ihn nicht kennt, würde sagen, dass er vor sich hinträumt. Schließlich setzt er sich doch in Bewegung. Vor dem zappelnden Keno bleibt er stehen.

      „Fuck! Fuck! War das geil, was? Hart am Limit, ziemlich hart. Der Typ in dem Porsche hat ja wohl auch ‘ne Meise, mich einfach so abzudrängen. Hast du das geseh’n? John! War das nicht der Hammer?“

      Kenos Stimme klingt unwirklich; viel höher als üblich. Er steht noch total unter dem Eindruck des Erlebten. Bei einem Drogenabhängigen würde man sagen: Er ist noch voll drauf.

      Im Hintergrund hört John wie der sonst so sanftmütige Luca rumschreit. „DIR WAR DANACH? IST DAS DEIN ERNST? ICH FRAG DICH WIE DU DARAUF KOMMST SO EINE SCHEISSE ZU BAUEN UND DU LABERST VON ‚MIR WAR DANACH‘??“

      Eine sanfte Brise lässt die Blätter des riesigen Baumes rascheln. Ein so friedliches Geräusch. Im Biergarten unterhalten sich murmelnd die Gäste; einige Kinder kreischen, während sie über das riesige Gelände toben.

      John legt den Kopf schräg und beobachtet Cat wie ein exotisches Tier. Sein Verhalten ist ungewöhnlich. Er redet nicht; gibt keinen herablassenden Kommentar ab. Wäre Keno nicht so dermaßen damit beschäftigt, rumzuzappeln, um sein Adrenalin abzubauen, würde ihm sofort auffallen, welcher Sturm sich in seinem Gegenüber zusammenbraut. Erst langsam wird ihm Johns absolutes Schweigen bewusst. Doch statt sich zurückzunehmen und den Mund zu halten, stellt er eine Frage. Und genau diese Frage hätte er sich verkneifen sollen. Johns stählernes Nervenkostüm ist legendär. Doch dieses eine Mal ist Kenos arglose Bemerkung genau der Auslöser für John, seine Fassung zu verlieren. Drei Worte.

      „Kotzt Bambi etwa?“ Keno reckt den Kopf Richtung Auto und runzelt die Stirn.

      Dass er Mika meint ist klar. Und dass er mit diesen drei Worten sein absolutes Unverständnis für Mikas Reaktion ausdrückt ist ebenso unmißverständlich. John versteht die Welt nicht mehr. Warum tut er dem Kleinen das an? Er ist damals fast gestorben, als er versucht hat, Mika zurückzuholen. Wie kann er Mikas Angst einfach so ignorieren? Früher hat er ihn geradezu angebetet. Ich fass‘ es nicht.

      John liebt seinen Chaoten, doch er liebt auch das blonde Nervenbündel da drüben, das sich gerade schwankend aufrichtet. Eine Hand presst Mika auf seinen Magen und mit dem Handrücken der anderen wischt er sich über den Mund.

      Blanke Wut schießt in Sekundenschelle durch Johns Körper. Eine Millisekunde lang ist er noch gelähmt. Doch dann verliert er den Kampf gegen seine Selbstbeherrschung.

      Keno hat gerade noch einen Wimpernschlag Zeit in Johns Richtung zu blicken. Wie eine Stahlramme trifft ihn dessen Faust am Kinn. Keno wird von der Wucht des Schlages nach hinten geworfen. Der breite Baumstamm hindert ihn daran, zu Boden zu gehen. Sein Hinterkopf schlägt hart auf die Rinde, so dass ihm kurz die Sinne schwinden. Alles surrt und dreht sich um ihn herum. Wie dickflüssiges Gift sickert ein Gedanke in sein Bewusstsein. Diese Erkenntnis trifft ihn heftiger als der eigentliche Schlag: Das hat er noch nie gemacht.

      Und es stimmt. Sie hatten schon sehr viele Auseinandersetzungen. Manche wirklich unschön. Doch einen so gezielten, harten Schlag mitten ins Gesicht … das gab es noch nie.

      Cat tastet automatisch mit einer Hand nach seinem knirschenden Kinn. Mit der anderen stützt er sich auf dem Oberschenkel ab, während warmes Blut von seiner aufgeplatzten Lippe zu Boden tropft.

      „John“, haucht er völlig konsterniert. Er versucht so gut es geht geradeaus zu sehen.

      John steht vor ihm, nach außen hin immer noch völlig kalt. Seine grau-blauen Augen ruhen starr und scheinbar ungerührt auf Kenos blutverschmiertem Gesicht.

      Kenos Knie beginnen zu zittern.

      „Ich muss dir … was sagen“, stottert er kaum verständlich.

      Sein verzweifelter Blick versucht irgendeinen Funken von Mitgefühl in Johns Augen zu entdecken. Vergeblich.

      „Ich will es nicht hören“, erwidert John leise.

      „Aber …“ Cats Augen füllen sich mit Tränen. „Ich will dir … erklären. Es tut mir wirklich leid.“ Seine Stimme wird immer leiser, denn John dreht sich einfach um und lässt ihn stehen.

      Mika hat sich inzwischen beruhigt und sein Gesicht an einem fröhlich plätschernden Brunnen gesäubert. Er steht am Wagen und blinzelt John entgegen. Den Schlag hat er mitbekommen. Das konnte er wahrlich nicht übersehen. Doch im Moment fehlen Mika einfach die Nerven, sich in das Geschehen einzuschalten.

      „Sollen wir fahren?“, bietet John an.

      „Was ist mit ihm?“, will Mika wissen und deutet mit dem Kinn in Kenos Richtung.

      „Der kommt schon irgendwann. Ich frag‘ mal Luca, ob er auch die Schnauze voll hat.“

      „Sollten wir nicht …“ Doch Mika wird jäh unterbrochen, denn in diesem Moment startet mit lautem Dröhnen Cats Maschine. Er gibt Gas und das Hinterrad bricht dabei kurz auf dem Schotter aus. Es dreht eine Sekunde lang durch und lässt die Steine spritzen. Dann verlässt Keno den Parkplatz und rast davon. Fast im gleichen Moment kommt Jackson angerannt, setzt seinen Helm auf und startet ebenfalls sein Motorrad. Wie der Blitz verfolgt er seinen Kumpel.

      „Na wunderbar!“, kommentiert John lakonisch. „Glänzender