I. Tame

Bestiarium


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lässt John ahnen, dass einige Barrieren in dem verzweifelten Mann vor ihm zusammen brechen. Und so ist es. Als Cat das nächste Mal empor schaut, sind seine Augen feucht. Er versucht, sich mit einigen weiteren Schlucken Wodka zu beruhigen.

      Dann starrt Keno auf die schmelzenden Eiswürfel in seinem Glas. Mit langsamer Bewegung seines Handgelenks lässt er sie sachte kreisen. Das leise Klirren scheint ihn zu hypnotisieren.

      „Bevor Jacks und ich hinter euch her gefahren sind, hab‘ ich noch einen Anruf erhalten.“

      „Von wem?“

      „Von Edwina.“

      „Und?“

      Jetzt blickt er doch zu John hinüber.

      „Er ist wach!“

      Mehr muss Cat nicht sagen. John weiß natürlich sofort, von wem die Rede ist.

      „Nein!“, entfährt es ihm entsetzt.

      „Doch!“, erwidert Keno müde und hört sich an wie ein alter Mann. „Das Gerücht kursiert schon seit längerem, doch nun scheint es amtlich. Er ist wach!“

      Entschieden kippt sich Cat den nächsten Drink ein.

      „Auch einen?“, fragt er abgeklärt.

      Kapitel 4

      Mika verfällt in eine alte Gewohnheit. Erst als John ihm ganz nebenbei die Hand vom Mund wegzieht, schreckt er aus seiner Grübelei auf. Eine Nagelhaut hat er bereits blutig gekaut. Keno sitzt ebenfalls gedankenverloren in einem bequemen Sessel und dreht eine Haarsträhne nach der anderen um seine Finger. Sein Blick frisst sich am Glastisch vor ihnen fest. John hängt auch ziemlich fertig auf dem Sofa neben Mika und stützt den Ellbogen auf der Seitenlehne ab. Müde liegt sein Kinn auf der Handfläche. Doch im Gegensatz zu Mika und Keno hört er aufmerksam zu.

      Sie sind bei Edwina, um den Ernst der Lage zu besprechen. Wie konkret sind die Gerüchte? Von wem stammen sie überhaupt? Und wo genau befindet sich Edward zurzeit?

      Mika ist zwar dabei, doch so richtig kann er dem Gespräch zwischen John und Edwina nicht folgen. Als seine Beiden gestern Nacht nach Hause kamen, reichte ein Blick auf Johns ernste Miene und alle Alarmsirenen in Mikas Kopf schrillten gleichzeitig los. Als er hörte, dass es sich um eine der schlimmsten Nachrichten handelt, die man sich vorstellen kann, blieb er … ruhig. Erstaunlich ruhig. Zuerst dachte er, dass er unter Schock steht. Doch die innere Ruhe blieb. Der Kern ganz tief in Mika ist nicht mehr zu erschüttern. Natürlich ist er nervös. Natürlich macht er sich Gedanken. Doch seine Gefühlsreaktionen halten sich in Grenzen. Ihn regen ganz andere Dinge auf.

      Keno kam auf ihn zugewankt und riss Mika in seine Arme. Fast kippten sie gemeinsam um, so inbrünstig drückte ihn der besoffene Heimkehrer an seine Brust.

      „‘schuldige … versseihssumir?“, murmelte er mit flehendem Blick. Doch bevor Mika antworten konnte, wandte sich sein Chaot abrupt um und eilte zur Toilette.

      „Mahlzeit!“, kommentierte John ironisch die folgende Geräuschkulisse.

      Jetzt sitzen sie hier. Edwina geht schier ein vor Mitgefühl. Keno hat den Kater seines Lebens … wieder mal. John bemüht sich um Fakten … wie immer. Und Mika? Der ist einfach nur sauer. Er baut seit ihrer gemeinsamen Therapie so fest auf Keno und wird doch immer wieder enttäuscht. Seine Beziehung zu John vertieft sich zunehmend. John hat insgesamt nur zweimal an einer Sitzung zu dritt teilgenommen. Doch seine üblicherweise so ironische und oftmals überhebliche Art schwindet immer mehr. Aus ihm ist ein umwerfend charmanter, fürsorglicher Mann geworden. Natürlich kehrt auch er immer wieder den Macho hervor. Doch wenn er mit Mika alleine ist, ist von dem John, der ihn zu Beginn ihres Kennenlernens so verunsichert hat, nichts mehr übrig.

      Mika ist ratlos. Sein Leben könnte wunderbar sein. Warum entfernt sich Keno jetzt wieder von ihm?

       Er hat mir nichts gesagt. Warum hat er mir nichts von den Gerüchten erzählt? Er verhält sich wie damals. Bloß die Klappe halten. Immer schön schweigen, um den Kleinen zu schützen. Hat er denn gar nichts begriffen?

      Angepisst blinzelt Mika in Kenos Richtung. Nein, so richtig kann er ihm nicht verzeihen. Er hält mich noch immer für einen Halbwüchsigen; für ein Kind, das man beschützen muss. Er muss es endlich begreifen: Ich bin ein erwachsener Mann. Nur weil ich beim Sex gern devot bin, heißt das doch nicht, dass ich mit der Wirklichkeit nicht klar komme. Das letzte Wort darüber ist zwischen uns noch nicht gesprochen.

      Mika seufzt leise und trinkt einen Schluck von dem köstlichen Tee, den Edwina serviert hat. John und Keno rühren ihre Tassen nicht an. Sie konnten Edwinas Vorliebe für dieses Getränk noch nie viel abgewinnen. Mika versteht das nicht. Noch nie hat ihm ein Tee so gut geschmeckt.

      „Aah.“ Er lehnt sich zurück und schlürft noch einmal genüsslich. „Der ist so gut, Edwina. Wie machst du das nur?“

      John starrt den Kleinen konsterniert von der Seite an.

      „Bist du jetzt völlig bescheuert?“, blafft er vorwurfsvoll. „Wir reden gerade darüber, dass euer ehemaliger Entführer und Vergewaltiger womöglich aus dem Koma erwacht ist und du plauderst über Tee?“

      John verzieht einen Mundwinkel und schüttelt leicht den Kopf. „Keine Ahnung warum Cat der Meinung war, dir nichts erzählen zu dürfen. Dabei bist du der Abgefuckteste von uns allen.“

      „Herrje, John! Bitte streitet euch doch nicht. Jeder reagiert anders auf schreckliche Nachrichten“, schaltet sich Edwina friedenstiftend ein.

      „Allerdings“, bestätigt Mika lakonisch und schießt einen weiteren giftigen Blick auf Keno ab.

      Diesmal bekommt sein grübelndes Gegenüber mit, worüber gesprochen wird.

      „Hast du ein Problem mit mir?“, fährt er prompt auf. Er lässt das Fummeln an seinen Haaren sein und trommelt dafür mit nervösen Fingern auf den Oberschenkeln herum.

      „Wie könnte ich?!“, höhnt Mika zurück. „Wo du doch immer so offen und ehrlich bist. MIR hast du jedenfalls noch nie was verschwiegen. Wie ist es mit dir, John?“ Sein zynischer Tonfall ist so untypisch für Mika, dass ihn alle – einschließlich Edwina – erstaunt anstarren.

      „Was ist?“, fragt er unwirsch in die Runde. „Ich dachte, wir reden hier über wichtige Dinge. Das ist mein wichtiges Thema: Ehrlichkeit! Und …“ Er setzt ruppig die Tasse ab. „… Personen, die darauf keinen Wert legen.“

      John wirft stöhnend den Kopf in den Nacken. „Ooaah, muss das jetzt sein?“, nörgelt er genervt. „Wir wollen hier über Edward reden; Licht in die Dunkelheit bringen … und im Zweifelsfall auch in eure beiden Gehirne. Können wir über die anderen …“ Er malt Anführungszeichen in die Luft. „… ‚Dinge‘ bitte zu Hause reden?“

      Bockig verschränkt Mika die Arme vor der Brust. „Von mir aus“, zickt er ein letztes Mal und wendet seinen Blick eingeschnappt von Keno ab.

      „Okay??“, hakt John ungeduldig auch in Kenos Richtung nach.

      Cat zuckt mit den Achseln. „Ich bin hier nicht der Pennäler.“

      Ohne Keno anzusehen, schnellt Mikas Mittelfinger in die Höhe.

      John beschließt, den Streit der Beiden zu ignorieren.

      „Sorry, Edwina“, entschuldigt er sich. „Wärst du so nett, das Ganze nochmals zusammenzufassen?“ Er wendet sich etwas lauter an die bockigen Streithähne. „Damit diesmal ALLE die Möglichkeit haben, zuzuhören.“

      Edwina räuspert sich vornehm. „Gerne, John. Also, die Gerüchte um Edwards Erwachen kursieren bereits seit vier Wochen. Zuerst hieß es, es ginge ihm … wahrscheinlich … besser. Angeblich stammt diese Aussage von einem Kunden ihres ehemaligen Geschäfts. Besagter Mann soll Edward und Maddie schon aus alten Zeiten in Texas kennen. Ein wirklich guter Bekannter, wie es scheint. Um wen es sich genau handelt, war natürlich nicht herauszufinden.

      Nun