J.D. David

Mondschein


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      Schon bald erreichten sie das Hafenviertel am Ufer der Gronde. Lora kannte dieses Viertel nur zu gut, Finn hingegen sah schnell ein, dass er ohne Loras Führung hier wohl längst verloren gewesen wäre. In der lauen Sommernacht lag eine ungewohnt friedliche Ruhe über dem Hafen, der so im starken Kontrast zu dem hektischen Treiben des Tages stand. Nur hier und dort hörte man den Lärm einzelner Spelunken, jaulender Hunde und Katzen oder auch mal einen Matrosen, der zu seinem Schiff zurück wankte. Dennoch bildeten diese Geräusche eher die Ausnahme. Hatte er es am Tage noch als stinkend, dreckig und trubelig wahrgenommen, verstand Finn jetzt die subtile Schönheit, die dieser Ort bot. Er wollte gerade stehen bleiben und sich überall umschauen, als ihn Lora am Arm packte um ihn weiterzuziehen.

      „Komm!“ sagte sie und gemeinsam liefen die Beiden den Fluss entlang. Schnell erreichten sie einen alten Turm, der Mitten im Hafen stand und so etwas deplatziert wirkte. Auch die Architektur des Turmes, der etwa zehn Schritte in die Höhe ragte, passte nicht zu dem Rest der Stadt. Waren die Mauern und Türme Tjemins hauptsächlich viereckig, robust gebaut, wies dieser Turm eine sechseckige Form auf. Man sah deutlich, dass der Turm in den letzten Jahrzehnten nicht beachtet wurde. Die Mauern bröckelten an mehreren Stellen, an einer Wand wuchsen Ranken den Turm hoch und der Eingang, der wohl einstmals ein hölzernes Tor enthalten hatte, war aufgebrochen und offen. Von einer Seite des Turmes begann ein kleines Stück Mauer, das aber nach kurzer Distanz in den ebenen Boden des Hafens überging.

      Lora lief durch den zerfallenen Eingang in das Innere des Turmes.

      Auch hier hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen. An der Turmwand entlang schlängelte sich eine Wendeltreppe bis zur Spitze des Turmes. Die Treppe wies einzelne gerade Stücke auf, die an den Ecken des Turmes immer abbogen und so auch ein Sechseck bildeten. Hier und dort waren Teile oder ganze Stufen herausgebrochen, von dem Geländer, dass die Treppe wohl einst abgesichert hatte, war nichts mehr außer den steinernen Halterungen zu sehen, die neben die Treppe gebaut waren. Außer der Treppe hatte nichts im Inneren des Turmes die Zeit überstanden. Es musste sehr lange her sein, seit dieser Turm aktiv genutzt worden war. Finn stieg über einzelne Gesteinsbrocken, die auf dem Boden des Turmes verteilt waren, und folgte dann Lora, die schon die Treppe empor stieg. Vorsichtig betrat Finn jede Stufe, immer in der Angst, dass einzelne Steinbrocken herausbrechen könnten und ihn zu Fall bringen würden. Bei einigen Abschnitten musste er große Schritte machen, um die zerstörten Stücke der Treppe zu überwinden, aber schließlich erreichte er ein bisschen nach Lora die Spitze des Turmes.

      Als Finn über die Treppe nach draußen stieg wehte ihm sofort ein leichter Wind durch die Haare. Er nahm die letzten beiden Stufen und ging dann zu Lora, die bereits an den Zinnen des Turmes stand und in Richtung des großen Flusses blickte. Finn stellte sich vorerst wortlos neben Lora. Er ließ den Gesamteindruck der Aussicht auf sich wirken. Von hier oben hatte man wirklich einen wunderschönen Blick. Der Himmel war klar, überall waren die Sterne zu sehen. Das helle Licht des fast vollen Mondes glitzerte auf dem Wasser des Flusses, der langsam nach Süden floss. Auf der anderen Uferseite erstrecken sich mächtige Wälder, soweit das Auge reichte. Finn wendete seinen Blick ein bisschen weiter nach Südosten. Obwohl er es nicht sehen konnte, wusste er, dass in diese Richtung Dämmertan lag, der Ort, der ihm in den letzten Jahren Heimat geboten hatte. Er ging weiter an den Zinnen des Turmes entlang und schaute dann auf die Stadt.

      Tjemin lag friedlich da. Er konnte über die gesamte Stadt blicken. Er sah das Gefälle, das sich von Ost nach West erstreckte. Aus alten Lagerhallen und jämmerlichen Bruchbuden wurden nach Westen hin immer stabilere, größere Häuser, die schließlich in dem großen Palast des Herzogs endeten. Die Aussicht von der Spitze des Turmes hatte etwas Besonderes.

      Auf einmal stand Lora wieder neben Finn.

      „Es ist wunderschön hier oben.“, sagte er leise und Lora nickte.

      „Ja, ich war oft hier oben und habe mir meine Stadt angeschaut. Im Turm ist eine gute Schlafstätte, auch wenn man hin und wieder von Gardisten verscheucht wurde. Trotzdem wollte ich hier noch einmal hin, bevor wir morgen die Stadt verlassen. Glaubst du, dass wir mal wieder nach Tjemin kommen werden?“, fragte sie.

      Auch wenn die Jahre hier natürlich schwer gewesen waren und sie auch froh war, diesen Ort verlassen zu können, war Tjemin dennoch zu Loras Heimat geworden. All die verwinkelten Gassen, der Hafen, der Turm, die Menschen Tjemins, all das hatte sie für sich als Heimat gewonnen.

      „Ja“, antwortete Finn. „Dies ist die Hauptstadt Fendrons und der Sitz des Herzogs. Ich bin mir sicher, dass wir noch öfter hierher kommen werden. Und dann werden wir wieder gemeinsam durch die Stadt laufen und auf diesen Turm steigen. Das verspreche ich dir.“

      Lora lächelte glücklich. „Gut.“, sagte sie, atmete noch mal tief durch und drehte sich dann um. Ebenso schnell wie sie die Treppe hinaufgestiegen war, lief sie im alten Turm wieder hinunter. Finn folgte ihr, auch wenn er wieder vorsichtig ging und so länger brauchte. Unten wartete Lora bereits auf ihn.

      „Ich möchte mich jetzt noch von jemandem verabschieden. Kommst du mit?“

      „Natürlich“, antwortete Finn und folgte Lora dann wieder in die dunklen Straßen Tjemins.

      Gemeinsam liefen die beiden wieder in die kleineren Gassen des Hafenviertels. Wieder einmal bemerkte Finn den Unterschied, den es zwischen armen und reichen Vierteln alleine in einer Stadt gab. Die Gassen waren natürlich nicht, wie die Straßen in den besseren Vierteln, gepflastert, und wohl nur die Tatsache, dass es die letzten Tage trocken gewesen war, ermöglichte es, dass die Gassen keine Schlammbäche waren. Dennoch war die Armut der Gegend offensichtlich. Die Häuser waren meist äußerst windschiefe Holz- oder Lehmhütten, die zu klein für die großen Familien waren, die darin lebten. Finn musste daran denken, wie lange Lora in diesen Gassen hatte leben müssen. Er konnte sich nicht wirklich vorstellen, wie man das schaffte, aber es gab genug Menschen, die in solchen oder noch schlechteren Verhältnissen leben mussten. In seinen Gedanken versunken bemerkte Finn auf einmal eine leise Stimme, die er hinter der nächsten Biegung vernahm.

      Erst dachte er, er hätte sich verhört, aber je näher sie kamen, desto klarer und deutlicher wurde die Stimme. Es war eine Frauenstimme, sie war sanft und ruhig. Die Stimme sang ein Lied, dass in Finn sofort ein seltsames Gefühl auslöste. Auch wenn er den Text nicht verstand, einerseits weil die Stimme noch zu weit entfernt war, andererseits glaubte er aber auch, dass das Lied in einer fremden Sprache war, spürte Finn in sich ein seltsames Gefühl. Das Lied war traurig, das erkannte man an der langsamen und wohlklingenden Melodie, dennoch hatte es etwas Aufmunterndes. Es ermutigte jemanden, weiter zu machen, nicht aufzugeben. Lora hatte ihren Schritt gebremst und ging langsam um die Ecke. Dann erkannte Finn, woher die Stimme kam.

      Um ein wärmendes Lagerfeuer saßen mehrere Menschen, offensichtlich Bettler und andere Menschen, die auf der Straße lebten, einer Frau gegenüber. Das Lagerfeuer warf ein sanftes Licht auf die Frau und Finn stockte er Atem. Die Frau war schön, sie war wunderschön. Finn erinnerte sich nicht daran, eine solch natürliche Schönheit schon einmal gesehen zu haben. Sie etwas sehr geheimnisvolles. Das pechschwarze Haar der Frau war in leichten Wellen gelockt und fiel ihr über die Schultern. Die Haut der Frau war makellos hell und die Augen, die sofort als sie um die Ecke kamen auf Finn zu blicken schienen waren grün wie Smaragde. Es war ein durchschauender, stechender Blick, der auf Finn lastete, aber dennoch war er nicht unangenehm. Dann wandte sich die Frau wieder ihrem Publikum zu, ihr Lied hatte sie nicht unterbrochen.

      Als Finn und Lora näher kamen bemerkte er weitere kleine Details an der Frau, die sie noch geheimnisvoller wirken ließen. Obwohl sie wohl ebenfalls wie die meisten hier auf den Straßen lebte, hatte sie Kleidung an, die sich so stark von den grau-braunen verdreckten Lumpen der anderen unterschied. Sie trug ein weißes Leinenkleid, ohne Ärmel, das mit verschiedenen Symbolen bestickt war. Um die Schultern trug sie ein scharlachrotes Tuch und an den Füßen hatte sie ordentlich gearbeitete, lederne Sandalen. Zudem trug sie Schmuck, einige Halsketten und Armbänder, dazu zwei Ringe an der linken und einen Ring an der rechten Hand. Die Kleidung und der Schmuck passte eher zu einer Tochter eines Adeligen Hauses, aber diese Frau stand hier im ärmsten Viertel Tjemins und schien überhaupt nicht zu fürchten, Opfer eines Überfalles oder Raubes zu werden. Doch das seltsamste an der Person war weder ihre Ausstrahlung noch