die Leute so gerne auf Urlaub hierher.«
Ich erwiderte die Geste und trank einen Schluck. »Kann ich mir gut vorstellen. Soweit ich bisher gesehen habe, ist euer Dorf ein richtiges kleines Juwel … versteckt und abgelegen … ich muss zugeben, mir ist bisher nicht einmal die Seitenstraße aufgefallen … geschweige denn die Tafel mit dem Ortsnamen auf der Hauptstraße.«
Walter nickte stolz. »Wir sind sogar auf der UNESCO Liste vertreten.«
Der Barkeeper schmunzelte. »Ja, aber leider nur in Form des alten Dorfbrunnens.«
Ich konnte gar nicht anders, als laut aufzulachen.
Wie er es gesagt hatte – sarkastisch wie fröhlich zugleich – es klang unglaublich witzig.
Lach nicht so laut!, hallte es mir durch den Kopf. Das hört man ja bis hinaus auf den Gang!
Gleichermaßen schnell, wie mir diese peinliche Gefühlsregung herausgerutscht war, unterdrückte ich sie wieder.
Verflixt!
Diese Leute kannten mich nicht … und ich kannte sie nicht. Und dann lachte ich hier unverschämt laut auf. Das war nicht eben die feine englische Art …
Unangenehme Gefühle geboren aus Erinnerungen vergangener Erlebnisse und hochzüngelnde Scham verdrängend trank ich einen weiteren Schluck.
Abermals war ich drum und dran, mich in nicht einmal fünf Minuten bis auf die Knochen zu blamieren –
»Und die große fünfhundert Jahre alte Kirche auf der Anhöhe«, wurden meine Gedanken durch eine jugendlich-sanfte wie unsicher klingende Männerstimme unterbrochen, welche anscheinend hinter meinem Rücken ihren Ursprung fand. Der unterschwellige warme Ton entfesselte eine leichte, langsam über meinen Rücken bis in meinen Nacken kriechende Gänsehaut, wodurch mein Puls unweigerlich an Geschwindigkeit zulegte.
Wie mir schien, hatte ich heute wahrhaftig ein wenig zu viel Aufregung erfahren. Anders konnte ich mir meine törichte körperliche Reaktion kaum erklären.
Obgleich ich den unbekannten Mann hinter mir ignorieren wollte, stieg eine leichte Neugier in mir hoch.
Wie sah die Person aus, deren Stimme mich solchermaßen berührte?
Langsam drehte ich mich um – und für die nächsten Momente stand die Welt still.
…
Mittellange im schummrigen Schein der Barbeleuchtung goldbraun glänzende Haare. Niedlich-zarte Gesichtszüge. Olivgrüne mich durchdringend musternde Augen … Ich konnte ihre Form nicht bestimmen. Weder waren sie länglich noch rund, jedoch unsagbar klar – schön … beinahe zu schön für einen jungen Mann.
Ich blickte etwas genauer hin. Nein, olivgrün beschrieb es nicht richtig. Eher Grasgrün. Oder Zartgrün … gar Moosgrün?
…
Ich wusste es nicht mehr.
Ich wusste gar nichts mehr. Lediglich eines war mir klar: Ich vermochte es nicht, mich von diesen elysischen Augen loszureißen.
Ebenso wenig vermochte ich es, diese neuen über mich hereinbrechenden mir gänzlich unbekannten Empfindungen zu benennen oder zu unterbinden.
Sie lähmten mich gleichermaßen, wie sie mich aufwühlten. Sie umschlangen mein Innerstes, kurbelten meinen wilden Herzschlag nochmals kräftig an, erleichterten und schützten mich.
Reiß dich zusammen!
Es gelang mir partout nicht zu sagen, wie lange ich den Mann schlussendlich angestarrt hatte. Oder ob oder wie er darauf reagierte, war ich doch weiterhin viel zu sehr damit beschäftigt, seine unbeschreiblichen Augen zu betrachten. Augen, in welchen ich ungeheuer viel zu erkennen glaubte … Und irgendwie auch nicht.
Ich fühlte mich verwirrt.
Einerseits war ich mir sicher gewesen, für den Moment eines Wimpernschlags unbändige Neugier, eine Art Tatendrang, kindliches Staunen, Mut, Ehrlichkeit und Hoffnung zu erkennen ebenso Unsicherheit, Furcht, Resignation und Traurigkeit. Aber jäh schienen all diese Emotionen wie verschwunden – als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Womöglich hatte ich es mir bloß eingebildet …
Menschen einzuschätzen gelang mir nie sonderlich gut. Dies bewies bereits mein nicht existenter Freundeskreis.
Ja, bestimmt hatte ich die vorhin erlebte gütige Freundlichkeit Manfreds nun auf diesen Menschen projiziert.
Nur, was hatte dazu den Anlass gegeben?
Ich wollte den Mann einer genaueren Prüfung unterziehen – doch auf Gedeih und verderb, es gelang mir nach wie vor nicht, meinen Blick von seinem zu nehmen.
Diese hellgrünen ehrlichen Augen … nein … dieses Licht in ihnen. Ja, dies hatte daran Schuld. Es lag gar nicht an der Form oder der Farbe – einzig an diesem strahlenden Licht, welches direkt aus seiner Seele zu kommen schien. Ein Licht, das ich in dieser Form noch nie zuvor erblickt hatte.
Es war eigenartig.
Üblicherweise sträubte sich alles in mir, wenn ich einen gänzlich fremden Menschen dergestalt lange und intensiv musterte. Hier hingegen geschah das exakte Gegenteil: Je länger ich ihn anstarrte, desto sicherer fühlte ich mich. Weder überkamen mich Scham, Furcht noch Zweifel oder Unsicherheit. Alleine Wärme spürte ich. Echte mein Herz erfüllende Wärme … nein … Geborgenheit, Sicherheit, Schutz … zu Hause.
Endlich bist du da. Wo hast du bloß solchermaßen lange gesteckt?
Durch diesen merkwürdigen Gedanken vollständig verwirrt, versuchte ich die vorhin getätigte Aussage des jungen Mannes aus meinen Erinnerungen abzurufen.
Es gelang mir beim besten Willen nicht!
Hatte dies ebenfalls mit dem Unfall zu tun? Womöglich ein nachträglicher Adrenalinausstoß, oder etwas Ähnliches?
»… was stehst du da, wie versteinert. Die Dame hat bestimmt Hunger. Bring ihr etwas.«
Manfreds allmählich in meinen Verstand vordringende Äußerung half mir teilweise, mich aus meiner Starre zu lösen.
»Nein … nein … Machen Sie sich bitte keine Umstände.« Nervös gestikulierte ich in des jungen Mannes Richtung. »Ich brauche nichts mehr. Außerdem ist es viel zu spät.«
»Red keinen Unsinn!«, widersprach Walter an mich gerichtet, ehe er wieder den Jüngling beäugte. »Bring ihr was! Sie hat genügend Aufregung gehabt. Da braucht sie jetzt was im Magen.«
Es verging ein Moment, bis der Mann eifrig nickte – seinen Blick nahm er zu keiner Zeit von mir. »Natürlich … was … was wünschen Sie denn?«
Ich vernahm die lachende Stimme des Barkeepers: »Ich wusste nicht, dass wir jetzt sogar Menüwünsche entgegennehmen.«
»Ich … nein … so meinte ich das nicht.« Er befeuchtete die schmalen Lippen, wollte weitersprechen, brachte aber kein einziges Wort mehr hervor.
Von einer Sekunde auf die andere fühlte ich mich hundeelend. Die gewaltige Scham des jungen Mannes schien komplett auf mich überzugehen.
Diese Situation war mir nicht fremd.
In den letzten Jahren hatte ich ein beinahe schmerzhaftes Talent dafür entwickelt, nervliche Anspannungen wahrzunehmen. Dies wirkte sich in zitternden Händen, manchmal sogar leichten Schweißausbrüchen und einem allgemeinen Unwohlsein meinerseits aus.
Dergestalt intensiv wie bei ihm hatte ich allerdings noch nie empfunden.
Strahlte er Empfindungen, verglichen mit anderen Menschen, stärker aus? Oder hatte ebenfalls meine eigene Lage Schuld daran?
Was es auch war: Ich kannte sein Gefühl … viel zu gut. Wenn man sich ohnehin unsicher fühlte, keine Fehler begehen wollte, in exakt dem Moment aber vollends den Faden verlor … es war fürchterlich. Es war grauenvoll. Es war entsetzlich.
Ich wollte ihm Mut zusprechen,