Tonda Knorr

Totenwache


Скачать книгу

meldete sich Wagner wieder leise zu Wort.

      „Nein. Das ist ein Befehl. Es wird nicht geschossen.“

      Die Stimme des Polizeidirektors wurde harsch.

      „Sie kommen hier nicht weg, Haagedorn.“

      Haagedorns Gesicht wurde ernst.

      „Das sehe ich anders. Sehen Sie mal, was ich in meiner anderen Hand halte.“

      Haagedorn drehte sich mitsamt der Geisel zur Seite. Kuntz konnte nichts erkennen.

      „Was hat er da?“

      „Sieht aus wie ein Schalter, ein Zünder. Ein Sprengzünder!“

      „Was? Der wird sich doch nicht mit der Geisel in die Luft jagen?“

      Wagner ließ Haagedorn nicht aus den Augen.

      „Nein, aber sein Auto.“

      Kuntz drehte sich urplötzlich um und sah die Beamten in der Nähe des Autos.

      „Deckung! Weg vom Auto!“, rief Kuntz den Beamten zu. „Weißt du, was passiert, wenn er das Ding in die Luft jagt?“

      „Vertrauen Sie mir. Der wollte mit dem Ding noch zurückfahren, und wenn er was vergessen hat, könnte das in dem Auto sein. Der jagt doch nicht das in die Luft, weshalb er zurückgekommen ist. Außerdem ist das Ding für Kriegseinsätze gebaut. Das ist ein Original Hummer. Das rumst zwar mächtig, aber ansonsten passiert nicht viel.“ Kuntz schaute abwechselnd zu Wagner und zu dem Auto.

      „Du kennst den nicht. Der hat keine Skrupel.“

      „Aber ich sehe sein Gesicht, und das kann ich ihm wegblasen.“

      „Nein.“

      Wagner konnte durch das Zielfernrohr jede Bewegung von Haagedorn sehen. Er sah auch das Gesicht der Geisel. Sie war jung, und die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

      „Keine Angst, junge Lady, es ist gleich vorbei“, murmelte Wagner vor sich hin.

      „Nein!“, schrie Kuntz Wagner an.

      „Was ist denn nun?“, meldete sich Haagedorn wieder zu Wort.

      „Keine Chance. Ich kann Sie hier nicht einfach so weglassen. Lassen Sie uns reden“, erwiderte Kuntz.

      „Sie hätten an Ihrem Schreibtisch bleiben sollen.“

      „Oh ja, das hätte ich“, sagte Kuntz mehr zu sich selbst.

      „Genug geredet.“ Obwohl der Tonfall von Haagedorn bedeutend leiser geworden war, konnte Wagner ihn genau verstehen. Er sah das hämische Grinsen in seinen Augen.

      „Deckung!“, brüllte Wagner, und im selben Augenblick sah er, wie Haagedorn den Knopf in seiner Hand betätigte. Ein fürchterlicher Knall erschütterte das bis eben totenstille Gelände. Frank drückte genau in dem Augenblick ab, als Haagedorn sich mit der Geisel, die Explosion ausnutzend, wegdrehen wollte. Ruckartig sackte die Geisel vorne über, aber Wagner sah genau das Loch in Haagedorns Stirn und schoss erneut. Wie von einem Schlag getroffen, knallte Haagedorn gegen die Mauer hinter sich. Die Arme weit von sich gestreckt, ließ er seine Pistole fallen. Die junge Frau kroch fluchtartig auf allen Vieren vor ihm her. Sie schrie und weinte. Wagner rannte zu ihr hin, die Waffe weiter auf Haagedorn gerichtet. Der sackte langsam an der Wand runter. Die Schuhe gruben sich in den Sand und hinterließen eine Furche. Wagner stand jetzt einen Meter vor ihm, nahm die Waffe runter und hob mit dem rechten Arm die junge Frau auf.

      „Ich blute“, jammerte sie. „Ich blute.“

      „Das ist nicht ihr Blut“, versuchte Wagner, sie zu beschwichtigen. „Es ist vorbei. Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei.“

      Die junge Frau weinte und schrie noch immer. Sie hämmerte mit den Fäusten auf Frank ein, der sie an sich presste.

      „Beruhigen Sie sich. Es ist vorbei“, wiederholte er.

      Die Frau sah Frank in die Augen. Er wollte sie mit einem Schmunzeln zur Ruhe bringen.

      „Beruhigen? Sind Sie noch bei Trost? Ich soll mich beruhigen?“

      Sie wollte wieder auf Wagner einhämmern, aber langsam verließ sie die Kraft. Weinend legte sie sich in Franks Arme. „Es ist vorbei.“

      Frank strich ihr durch die Haare. Sein Blick richtete auf Kuntz. Alle waren aus ihrer Deckung gekommen. Der Polizeidirektor stand wie versteinert da. Seine Schultern hingen kraftlos runter. Der Einsatzleiter deutete mit einem gehobenen Daumen seine Wertschätzung an, wohl wissend, was hier eben passiert war. Aus dem Hummer stieg eine riesige Qualmwolke auf. Kleine Flammen loderten aus dem Innenraum des Wagens. Durch die Luft wirbelten unzählige Geldscheine. Wagner bewegte sich langsam mit der Frau im Arm in Richtung des Polizeidirektors. Kuntz drehte sich zum Einsatzleiter um.

      „Absperren. Keiner, und ich sage keiner, kommt durch die Absperrung. Ordern Sie einen Krankenwagen, eine Feuerwehr und, wie es aussieht, einen Leichenwagen. Sie sind dafür verantwortlich, dass keiner ohne ausdrücklichen Befehl das Gelände betritt. Informationssperre, haben Sie verstanden? Machen Sie das Ihren Leuten klar. Und einer soll das beschissene Geld einsammeln.“

      Kuntz musterte weiträumig das Gelände. Sein Blick verharrte bei der jungen Frau.

      „Geht’s?“

      Die Frau nickte nur kurz. Frank löste die Umarmung und schaute sie lächelnd an. Sie erwiderte, sichtlich unter Schock stehend, seinen Blick.

      „Ich glaube, ich bin Ihnen was schuldig.“

      Frank verneinte.

      „Sie schulden mir nichts, dafür bezahlen Sie schließlich Steuern“, versuchte er zu scherzen. Einer der Beamten nahm sich ihrer an. Nach ein paar Schritten drehte sich die Frau noch mal um.

      „Danke.“

      Frank schaute ihr hinterher. Er stand jetzt fast neben Kuntz. Der Polizeidirektor schaute in die Richtung, wo Haagedorns Leiche sitzend an der Wand lehnte. Er ging ihr zwei, drei Schritte entgegen.

      Frank Wagner gab dem Beamten seine Waffe wieder, zog seine Jacke aus und setzte sich auf die Reste der alten Mauer.

      „Wie machst du das?“

      Frank krempelte sich die Ärmel hoch.

      „Was?“

      Der junge SEK-Beamte schaute ihn voller Bewunderung an. Mit seinen Handflächen rieb er sich verlegen auf den Oberschenkeln. Frank sah, wie seine Hose den Schweiß aufsog.

      „Keine Angst zu haben. Du hättest die Geisel treffen können.“ Frank blickte zur Seite und sah in die aufgerissenen Augen des jungen Mannes. Er vermutete, dass er noch nicht allzu lange beim SEK war und noch nicht viele Einsätze dieser Art erlebt hatte.

      „Wer sagt dir, dass ich keine Angst hatte?“

      „Du hast so besonnen und eiskalt gewirkt.“

      Frank legte die Hand auf seine Schulter.

      „Seit wann bist du dabei?“

      „Ein halbes Jahr.“

      „Dein erster Einsatz dieser Art?“

      Der Beamte nickte.

      „Dann lass dir sagen, die Angst kommt immer erst hinterher.“ Frank nahm seine Hand von der Schulter und ließ sich den lauen Sommerwind ins Gesicht wehen. Er streckte seinen rechten Arm gerade nach vorne, und die beiden Polizisten beobachteten das Zittern seiner Hand.

      „Siehste, hinterher darf das sein, dabei nicht.“

      „Du kannst echt stolz sein. Du hast gerade eine Geisel befreit.“ Frank schaute ihm wieder ins Gesicht.

      „Stolz? Mit Stolz hat das nichts zu tun. Vergiss nicht, ich habe gerade einen Menschen erschossen.“

      „Aber der war doch ein Verbrecher.“

      „Aber eben auch ein Mensch. Zwar ein schlechter Mensch,