Tonda Knorr

Totenwache


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zu. Der junge Beamte schaute ungläubig.

      „Nun verschwinden Sie schon.“

      Der Beamte stand auf, klopfte Frank auf die Schulter, gab ihm die Hand und verschwand.

      „Siehste, jetzt kommt die Kehrseite.“

      „Kehrseite?“, fragte er im Weggehen.

      Der Einsatzleiter erwartete schon den jungen Mann.

      „Was meint er mit Kehrseite?“

      Zögernd blickte der Einsatzleiter in die fragenden Augen des Beamten.

      „Ärger. Die Kehrseite heißt Ärger. Das, was du da gerade erlebt hast, ist eine Grauzone in den Dienstvorschriften. Wir nennen es Notwendigkeit, andere nennen es den finalen Schuss. Und das hier, das war ein Paradebeispiel für einen finalen Schuss. Der Direktor hat ihm den nicht ohne Grund untersagt.“

      Beide beobachteten, wie Kuntz sich vor Kommissar Wagner postierte.

      „Sichern Sie das Gelände. Die Feuerwehr kommt gleich.“

      Der junge Beamte stand da wie angewurzelt.

      „Nun machen Sie schon.“

      Bernhards Gesicht sah alles andere als erleichtert aus.

      „Hast du was mit den Ohren?“

      „Na ja, nach der Explosion kann das schon sein.“

      „Lass deine blöden Sprüche, Frank. Ich habe dir ganz klar einen Befehl erteilt.“

      Frank begutachtete das Gelände.

      „Was sollte ich denn machen? Sehen Sie sich doch mal um. Der hätte hier ohne weiteres abhauen können, und dann wäre er wieder weg gewesen.“

      „Nicht schießen, habe ich gesagt. N-I-C-H-T“, buchstabierte Kuntz mit aufgebrachter Stimme.

      Frank hob beschwichtigend die Arme.

      „Ist doch alles gut gegangen.“

      Fassungslos musterte der Polizeidirektor den Kommissar.

      „Sag mal, willst du mich nicht verstehen, oder kannst du mich nicht verstehen? Steht in der Dienstvorschrift irgendetwas von dem, was hier gerade passiert ist?“

      Frank erhob sich.

      „Da steht nicht drin, dass es untersagt ist.“ Kleinlaut ergänzte Frank noch: „Glaube ich jedenfalls.“

      Es war ihm immer ein Graus, den dicken Wälzer regelmäßig zu studieren. Wagner war stets der Meinung, wenn er instinktiv und schnell handeln muss, könne er es sich nicht leisten, erst mal die Dienstvorschrift durchzublättern, um rauszufinden, ob sein Handeln den Vorschriften entspricht. Oft genug hatte er sich mit dieser Auffassung, trotz seiner zahlreichen Verdienste, Ärger eingehandelt.

      „Da steht aber auch nicht drin, dass es erlaubt ist.“ Kuntz setzte sich verärgert hin.

      „Was wollen Sie denn eigentlich? Sie haben Haagedorn. Keiner hat was gesehen. Die Frau ist froh, dass sie noch lebt und …“

      Kuntz sprang auf und unterbrach den Hauptkommissar.

      „Mensch, halt bloß deine Klappe. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich dir eine scheuern. Du bist Polizist! Es gibt Spielregeln, an die hat sich auch ein Kommissar Wagner zu halten.“

      „Die Spielregeln sind aber Scheiße. Entscheidend ist doch das Ergebnis.“

      Der Polizeidirektor musterte Frank. Er war sich nicht sicher, ob Wagner wusste, was er da von sich gab.

      „Du hast ganz klar einen Befehl missachtet, und wenn das publik wird, können wir uns warm anziehen.“

      „Publik wird? Habe ich hier was übersehen? Hier ist doch weit und breit keiner.“

      „Ach? So einfach ist das für dich. Dann sag mir doch mal, was mit denen da ist, und was mit der Geisel ist?“ Kuntz fuchtelte wie wild mit den Armen und deutete auf die Beamten vom SEK, die aufmerksam den Disput der beiden verfolgten.

      „Die gehören doch zu uns, und die Geisel ist doch …“ Wieder wurde er von Kuntz unterbrochen.

      „Du willst mir jetzt allen Ernstes weismachen, dass die jetzt die Klappe halten? Die werden irgendwann in der Kneipe, wenn sie ordentlich einen gebechert haben, sich mit genau solch einer Geschichte zum Helden machen. Und die junge Frau hält doch nur so lange die Klappe, bis ihr einer erzählt, was hier gerade abgegangen ist.“

      Frank nahm seine Jacke.

      „Kann ich jetzt gehen?“ Bockig wartete er erst gar nicht eine Antwort ab.

      „Morgen habe ich deinen Bericht auf meinem Schreibtisch liegen, nirgendwo anders.“

      Wagner reagierte nicht und war schon ein paar Schritte weg.

      „Deine Waffe und deine Marke.“

      Plötzlich drehte er sich um.

      „Was?“

      „Deine Waffe und deine Marke. Du bist erstmal raus. Was hast du denn gedacht?“

      Frank ging auf Kuntz zu.

      „Das können Sie doch nicht machen.“

      Kuntz stand auf.

      „Das kann ich nicht nur, das muss ich sogar.“

      „Was soll denn der Quatsch?“

      „Das ist kein Quatsch. Du hast einen Befehl missachtet. Du bist suspendiert. Erstmal. Morgen reden wir weiter.“

      Wagner verharrte für einen Augenblick. Dann wühlte er in seiner Jacke und legte seine Marke und seine Waffe auf den Mauerrest.

      „Scheiße.“

      „Das kann man so sagen. Und Frank, ich weiß, dass du noch eine zweite Waffe hast. Keine Extratouren. Du bist draußen, hast du das verstanden? Draußen!“

      Frank musterte den Polizeidirektor, drehte sich um und ging. Kuntz schaute ihm noch für einen Augenblick hinterher, setzte sich wieder auf den Mauerrest und vergrub sein Gesicht in den Händen.

      „Scheiße, verfluchte Scheiße.“

      Kapitel 3

      Der Tisch, auf dem Sarah saß, war aus robustem, altem Holz. In der Hand hielt sie eine Tasse kalten Kaffee. Ihre Füße stützten sich auf die davorstehende Bank. Sie nahm ihn nicht wahr, diesen herrlichen Blick über die Brandenburger Felder. Mit tosendem Lärm planierte eine alte Raupe die Flächen, nicht unweit vor dem alten Gehöft. Sie beobachtete uninteressiert den wild mit den Armen fuchtelnden Mann in seinem piekfeinen Anzug. Er sah aus, wie aus dem Ei gepellt. Der alte, graumelierte Mann versuchte krampfhaft, dem Raupenfahrer klarzumachen, was der selber am besten wusste. Aber so war er, der alte Mann. Alles wollte er lieber selber und natürlich besser machen. Die kreuz und quer verteilten, farbig gekennzeichneten Holzpfähle ließen erahnen, dass hier gebaut werden sollte. Sarah fragte sich noch immer, wie er mal wieder so schnell eine Baugenehmigung und dann noch mitten auf dem Feld bekommen hatte. Aber genauso schnell verwarf sie den Gedanken auch wieder. Ihr reichte das alte Haus, vor dem sie saß. Emotionslos hatte sie das Angebot ihres Vaters angenommen. Sie hatte auch keine große Wahl gehabt. Immer wieder dachte sie sich, wäre ein Platz auf dem Mond zu haben gewesen, sie hätte sofort zugesagt. Bloß weg, weit weg. Keinen sehen, keinen hören. Am liebsten hätte sie nicht mehr gelebt, aber irgendetwas ließ sie morgens immer wieder erwachen, um sich über den Tag zu quälen. Und das nun schon seit fast einem Jahr.

      Ihr Vater hatte ihr den Hof besorgt. Da kannst du zur Ruhe kommen, waren seine Worte gewesen. Es war keine Rede davon, dass zu dem alten Gehöft noch zig Hektar Felder und Wiesen gehörten, und dass er da so ganz nebenbei bauen wollte. Sarah hatte eine Woche Zeit gehabt, um sich zu entscheiden. Sie fühlte sich mal wieder bevormundet, hin und her geschoben. Es war ihr egal, sie wollte nur irgendwo auf dieser Welt ihre Ruhe haben. Dass das Haus eine