Tonda Knorr

Totenwache


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mit sich selbst. Sie ging zur Tür und zuckte zusammen, als ihr Vater vor ihr stand.

      „Ich habe deinen Pfiff gehört.“

      „Kaffee ist fertig“, sagte sie überrascht. Herbert Fender wollte ihr die Tasse aus der Hand nehmen. Mit einer grazilen Drehung wand sich Sarah an ihrem Vater vorbei.

      „Der ist nicht für dich“, entgegnete sie kurz. „Der ist für Gustav.“

      „Nee nee, lass mal, der soll erstmal ein bisschen Gas geben“, bestimmte Herbert. „Außerdem trinkt der Tee.“

      Sarah blieb stehen, reichte ihrem Vater den Kaffee und blickte zum Straßenrand. Da saß sie wieder, die alte Frau. Auch Herbert richtete seinen Blick auf die alte Frau.

      „Sitzt die immer da?“, fragte Herbert.

      „Glaub schon.“

      „Wollen wir uns raussetzen?“

      „Ich mach dir noch ne Schrippe.“

      Sarah blickte ihren Vater nicht an. Ihr Blick hing wie gefesselt an der alten Frau.

      „Nee, lass mal. Kaffee reicht mir. Weißt doch, die Schrippen bring ich nur als Alibi mit. Vielleicht später. Komm, setz dich.“

      „Was?“ Sarah tat, als hätte sie ihrem Vater nicht richtig zugehört.

      „Hol dir deinen Kaffee und setz dich zu mir“, wiederholte Herbert und sprach dabei betont langsam. „Du weißt doch, die Schrippen hole ich immer nur, um so zu tun, als ob.“

      Für einen Augenblick schaute Sarah ihn an. Er verdrehte die Augen. Sie holte sich ihre Tasse und setzte sich zu ihrem Vater, der tief Luft holend über das weite Land schaute.

      „Vielleicht sollte ich dir lieber nicht diese Sicht verbauen“, sagte er leise, in der Hoffnung, Sarah könnte seine Zweifel an seinen Bauplänen nicht hören.

      Gedankenverloren saßen sie nebeneinander.

      „Sarah?“

      Herbert versuchte zaghaft, ein Gespräch zu beginnen.

      „Versteh mich nicht falsch …“ Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

      „Ist schon gut, Herbert, es gibt im Moment nichts zu reden, und ich will auch nicht reden.“ Herbert Fender drehte sich seiner Tochter zu.

      „Irgendwann müssen wir aber reden.“

      „Es gibt nichts zu reden. Du wolltest nicht, dass ich zur Polizei gehe, also lass mich.“

      „Aber irgendwann müssen wir reden“, beharrte er.

      Sarah schwieg. Herbert hob mahnend die Hand.

      „Außerdem habe ich dich schon tausend Mal gebeten, du sollst mich nicht immer Herbert nennen. Ich bin dein Vater.“

      „Väter unterstützen ihre Kinder, Herbert.“

      Diese Worte klangen wie eine schallende Ohrfeige.

      „Wir werden heute mit der Einfahrt neben der alten Scheune anfangen“, wechselte er das Thema.

      „Warmes Wasser und die Treppe wären mir lieber, aber du wirst schon wissen, was du machst“, antwortete Sarah mehr aus Höflichkeit.

      „Heute oder morgen kommen auch die Handwerker, die drinnen was machen sollen.“ Herberts Kopf deutete auf das Haus. „Kommst du drinnen klar?“

      Sarah verzog keine Miene.

      „Hm.“

      Hilflos bohrte er weiter.

      „Was ist los mit dir?“ Eigentlich eine dämliche Frage, dachte er im selben Augenblick. Zu genau wusste er, was Sarah beschäftigte. Aber er kam nicht an sie ran.

      „Ich fang heute an“, ignorierte Sarah seine letzte Frage. „Nein, ich fang jetzt an“, verbesserte sie sich.

      Herbert nickte nur kurz und sah Sarah hinterher, wie sie ins Haus ging. Auf halbem Wege drehte sie sich um. Sie wollte ihrem Vater noch etwas sagen, hielt aber inne. Neben der alten Frau auf der Straße stand ein Mann. Sarah blinzelte mit den Augen, um ihn erkennen zu können. Die Raupe, die sich langsam in der Nähe der alten Scheune vorarbeitete, hüllte den Hof in Staub. Sarah war sich sicher, dass der Mann ein Geistlicher war, ein Pfarrer. Die alte Frau erhob sich. Zum ersten Mal sah Sarah die Frau in voller Größe. Die Kleider, die sie trug, waren zwar alt, aber nicht zerrissen oder dreckig. Ihr war das noch nie aufgefallen. Das Kopftuch hatte sie weit ins Gesicht, fast über die Augen gezogen. Herbert Fender blickte unschlüssig zu seiner Tochter und dann zu der alten Frau am Straßenrand. Sarah ging langsam in Richtung Straße. Sie hob zögerlich die Hand, um zu winken. Die alte Frau hob plötzlich die Hände vors Gesicht. Der Pfarrer deutete einen Gruß an. Sarah wollte die Gelegenheit nutzen und ging auf die beiden zu. Die alte Frau drehte sich ab und lief auf das Grundstück hinter sich. Der Pfarrer änderte seine Handbewegung und deutete Sarah an, nicht näherzukommen. Sarah hielt inne. Sie drehte sich fragend zu ihrem Vater um. Der saß noch immer auf der Bank und zuckte nur mit den Schultern. Sarah musterte das Grundstück der alten Frau. Zwischen den wild wachsenden Sträuchern konnte man einen alten Holzzaun erkennen. Da, wo die alte Frau verschwunden war, war ein ausgetrampelter Pfad, und das Gestrüpp war rechts und links zur Seite gedrückt. Kaum wahrzunehmen, als ob der Pfad nur ganz selten benutzt werde. Sarah suchte nach einem Haus.

      „Mann, mach doch mal das Ding aus, Gustav!“ Die Raupe wirbelte immer mehr Staub auf. Als Sarah wieder klare Sicht hatte, war der Pfarrer verschwunden. Sarah zuckte zusammen und suchte mit den Augen Rat bei ihrem Vater. Herbert verzog keine Miene. Sarah rannte auf die Straße und stolperte fast in den knöchelhohen Sandspuren der Raupe.

      „Scheiße“, fluchte sie und hüpfte ein paar Meter auf einem Bein, als sie feststellte, dass ihr Schuh voller Sand war. Von der Straße aus blickte sie runter ins Dorf.

      „Suchen Sie mich?“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Erschrocken drehte sie sich um, während ihre Hand dahin griff wo früher ihr Pistolenhalfter saß. Der Pfarrer ging einen Schritt zurück

      „Hui, Sie haben mich erschreckt.“ Sarah beruhigte sich wieder und strich sich mit den Händen durch die langen Haare. Ihr Haarband, mit dem die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, hatte sich gelöst. Verlegen wischte sie sich die rechte Hand an ihrer Hose ab und reichte sie dem Pfarrer.

      „Fender“, stellte sie sich vor. „Sarah Fender.“

      „Werner Gram“, antwortete der Pfarrer.

      Sarah hatte im Nu wieder ihre Fassung erlangt und fragte:

      „Pfarrer Gram, vermute ich?“

      „Wenn Sie so wollen“, erwiderte der Pfarrer wortkarg. Er bemerkte den suchenden Blick von Sarah.

      „Wo ist sie hin?“

      Der Pfarrer verstand sofort.

      „Sie wohnt hier.“

      Sarah machte ein paar Schritte in Richtung des Trampelpfades. „Lieber nicht“, sagte der Pfarrer leise.

      „Mir ist gar nicht aufgefallen, dass hier im Dorf eine Kirche steht“, wandte sich Sarah wieder an den Pfarrer.

      „Abgebrannt in den Wirren des Krieges“, wurde der Pfarrer immer leiser. „Nie wieder aufgebaut. Ich wohne dort unten im Gemeindehaus. War auch abgebrannt, das wurde aber wieder aufgebaut.“

      Sarah suchte wieder nach der alten Frau und nach irgendetwas, das zwischen dem ganzen Gestrüpp auf ein Haus schließen ließ.

      „Lassen Sie. Bitte“, wiederholte der Pfarrer. Er blickte Sarah eindringlich an und drehte dann ab.

      Sarahs Lippen bewegten sich, aber es kam nichts heraus.

      „Einen schönen Tag noch.“ Der Pfarrer ging, ohne sich umzudrehen.

      „Ja, ja Ihnen auch“, stammelte Sarah vor sich hin. Einen kurzen Blick noch wagte sie in Richtung des alten, verwilderten Grundstückes, ohne einen