Tonda Knorr

Totenwache


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      „Wie geht es Herbert?“, schob der Direktor gleich die nächste Frage hinterher.

      „Seit gestern Abend?“ Sarah sah mit verkniffenen Augen zu Bernhard rüber und beugte sich, ihre Arme verschränkend, auf den Tisch.

      „Hm, messerscharf“, raunte Bernhard Kuntz.

      „Das hat nichts mit messerscharf zu tun. Du kennst meinen Vater bald länger, als ich alt bin. Man muss nicht bei der Polizei sein, um zu kombinieren, dass du mit ihm vorher sprichst, wenn du mich vorlädst.“

      „Hm, hab ich eigentlich nicht. Wir haben gestern Abend nur kurz telefoniert. Du kennst doch deinen Vater, der hat immer was zu tun.“ Kuntz machte eine kurze Gedankenpause. „Was willst du jetzt machen?“

      „Warum fragst du? Ich wollte nicht aufhören.“

      „Weißt du, was das hier ist?“ Bernhard Kuntz nahm seine Hände und hielt sie weit gespreizt rechts und links neben die vor ihm liegende Akte.

      „Meine Akte“, antwortete Sarah kurz und knapp.

      „Richtig. Und siehst du auch, wie dick die ist?“

      Sarah nickte.

      „Die Hälfte davon sind medizinisch-psychologisch korrekte Gutachten, die dir eine Dienstunfähigkeit bescheinigen…“

      Sarah fiel ihm ins Wort.

      „Und die andere Hälfte sind hoffentlich meine Verdienste, Verhaftungen und Auszeichnungen aus mehr als fünfzehn Dienstjahren. Wer hat die Gutachten gemacht? Ärzte, die sich auf der Straße auskennen?“

      Bernhard Kuntz lehnte sich zurück und musterte Sarah. Er wollte ihr nicht zeigen, dass er auf die Antwort nicht vorbereitet war.

      „Aus deiner Akte geht hervor, dass dir eine Dienstunfähigkeitsrente zusteht. Außerdem bist du privat abgesichert. Wo ist dein Problem? Willst du die Gutachten anzweifeln?“

      „Ich bin nicht dienstunfähig. Ich will wie jeder andere gerecht behandelt werden.“

      „Du warst eigensinnig, hast vorschnell gehandelt und dich über Befehle hinweggesetzt.“

      „Ich …“ Sarah machte eine kurze Pause. „Ich habe mich der Situation angepasst und instinktiv gehandelt. Wenn ich was falsch gemacht haben sollte, habe ich ausreichend dafür bezahlt.“ Sarah überlegte kurz, bevor sie weitersprach. „Wann warst du das letzte Mal auf der Straße? Du weißt nicht, was draußen los ist, genau wie diese Ärzte.“

      Bernhard Kuntz sprang auf. Er zögerte kurz, erinnerte sich, wie er unfreiwillig mit Frank Wagner vor nicht allzu langer Zeit in vorderster Front agierte. Zu gerne hätte er Sarah davon berichtet, dass Haagedorn tot ist, aber die Sache sollte nicht publik gemacht werden. Sarah gehörte nicht mehr zu den Leuten, die eingeweiht sein sollten.

      „Vergiss bitte nicht, mit wem du hier redest.“

      Eine lähmende Stille machte sich breit.

      „Ich muss gleich zum Innenminister. Ich muss dich hoffentlich nicht darauf hinweisen, dass du als Hauptkommissarin im Ruhestand trotzdem weiter unter Eid stehst.“

      Die Stimme von Bernhard Kuntz klang nun kalt und unbeteiligt.

      „Das stehen die anderen auch.“ Sarah blickte aus dem Fenster. „Was willst du damit sagen?“

      „In den Dienstvorschriften steht nichts davon, seine Kollegen im Stich zu lassen.“

      „Was wirfst du ihnen vor? Dass sie sich im Gegensatz zu dir an die Befehle gehalten haben?“

      Sarah drehte sich wieder Bernhard zu.

      „Wäre ich da nicht reingegangen, wäre Haagedorn weg gewesen.“

      „Sarah“, mahnte Kuntz eindringlich. „Haagedorn ist weg.“ Wieder zögerte er. „Der Stoff ist weg, das Geld ist weg, und ich habe eine hervorragende Polizistin verloren.“

      „Aber nur, weil die anderen mich im Stich gelassen haben.“ Sarahs Stimme wurde lauter.

      „Ob allein, zu zweit oder zu sechst, in einem unübersichtlichen Terrain gegen Haagedorn und seine ganze Truppe, du musst doch verrückt gewesen sein. Du hast doch lange genug den Fall bearbeitet. Du musstest doch wissen, was das für Verbrecher sind. Meinst du, die machen halt vor einer Polizistin?“

      „Verrückt. Ich muss verrückt gewesen sein, mich auf die anderen zu verlassen.“

      „Sei froh, dass du heil davon gekommen bist.“ Im selben Augenblick bereute Bernhard Kuntz seine Wortwahl. Er schaute aus den Augenwinkeln zu Sarah.

      „Heil?“ Sarah verschluckte den Satz. Sie blickte wieder aus dem Fenster und merkte, wie ihr die Tränen langsam über die Wange liefen. Scheiße, dachte sie sich, genau das wollte sie verhindern.

      „Was macht deine Hand?“

      Sarah blickte kurz auf die Innenfläche ihrer linken Hand. Die vielen kleinen Narben würden sie ein Leben lang an den zerborstenen Spiegel erinnern, in den sie in dieser Nacht, um ihr Gesicht zu schützen, gefasst hatte. Aber mehr noch machte ihr ihre Schulter zu schaffen.

      „Wird besser.“

      „Herbert befürwortet die Entscheidung, dich in den Ruhestand zu entlassen, schließlich auch.“

      Wie ein Blitz schlug Bernhards letzter Satz ein. Sarah ballte ihre linke Hand zur Faust und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie bekam Hitzewallungen, die ersten Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Ihr lief es heiß und kalt den Rücken runter. Was um alles in der Welt hatte ihr Vater damit zu tun? Zog ihr Vater im Hintergrund schon wieder die Fäden? Haben die beiden alten Männer schon wieder die Köpfe unter eine Decke gesteckt? Ihr wurde speiübel.

      „Ich bin fünfunddreißig Jahre alt!“

      Bernhard antwortete nicht. Es vergingen ein paar Minuten, in denen kein Wort fiel. Kuntz schaute auf die Uhr. Er nahm vorsichtig Sarahs Entlassungsurkunde aus der Akte, stand auf und bewegte sich mit schweren Schritten auf sie zu. Sarah blickte weiter aus dem Fenster. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Mit dem Unterarm wischte sie sich wie ein kleines Kind über ihre Wangen. Bernhard legte die Urkunde neben Sarah auf den Tisch, holte aus seiner Jacketttasche ein Taschentuch und reichte es ihr. Sarah musterte das Taschentuch. Es war aus Stoff. Alte Schule, dachte sie. Bernhard Kuntz legte seine Hand auf ihre Schulter, seufzte und ging langsam zur Tür. Unglücklich wanderte Sarahs Blick durch den Raum, bis er an der Tür hängen blieb. Bernhard stand an der Tür, legte eine Hand auf die Klinke und nickte nur kurz. Als Sarah auf seiner Höhe war, öffnete er ihr die Tür. Sie ging ohne ein Wort und einen Blick für Bernhard durch die Tür.

      „Sarah.“

      Sie hielt inne.

      „Ich halte dich immer noch für eine sehr gute Polizistin.“

      Sarah drehte sich weg und lief den Gang lang. Ihr Schritt wurde immer schneller. Die Tränen rannen ihr nur so über das Gesicht. Wie wild drückte sie auf den Fahrstuhlknopf, immer wieder. Der Wachmann wollte ihr helfen.

      „Alles in Ordnung? Kann ich Ihnen helfen?“

      „Die Treppe! Wo verdammt ist die Treppe?“

      Sarah ging auf den Fingerzeig des Wachmanns hin durch eine Tür. Sie rannte die Treppe runter und stürzte vorbei an der überraschten Empfangsdame im Foyer hinaus durch das Eingangstor. Endlich draußen hielt sie kurz inne und holte erstmal tief Luft. Die Stufen der Vortreppe nahm sie mit einem Sprung. Sie rannte und rannte und blieb erst vor dem Polizeipräsidium stehen.

      Bernhard Kuntz schaute Sarah auf dem Flur noch hinterher. Die fragenden, auseinander gehaltenen Arme des Wachmanns beantwortete er nur kurz mit einem Kopfschütteln. Er schloss die Tür und sah am anderen Ende des Raumes Theresa mit verschränkten Armen und einem Taschentuch in der Hand aus dem Fenster schauen. Er machte einen Schritt zu dem ihm nahe liegendem Fenster und schaute ebenfalls auf den Hof. Die Hände vergrub er in seinen Hosentaschen. Man konnte das Ticken des Sekundenzeigers der