Tonda Knorr

Totenwache


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Mein Vater war Pfarrer. Aber seitdem er das nicht mehr macht, habe ich das übernommen. So nebenbei. Die Leute brauchen ja so was. Die Kirche sieht das nicht so eng, und den Leuten ist es egal. Hauptsache, sie haben einen, der ihnen zuhört. Vielleicht wäre Seelsorger die bessere Umschreibung.“

      Sarah blickte zum Fenster. Wieder bewegte sich die Gardine. „Ihr Vater?“

      Der Pfarrer blickte zum Haus.

      „Sie sehen viel. Nein, mein Vater ist tot.“ Sarah wusste nicht, ob sie lächeln oder ein trauriges Gesicht machen sollte.

      „Oh, das tut mir leid“, sagte sie.

      „Kein Problem. Ich kannte ihn nicht einmal.“

      Der Pfarrer blickte Sarah erwartungsvoll an.

      „Ich komme darauf zurück. Vielen Dank für das Angebot.“ Sarah winkte kurz, schwang sich in ihr Auto und fuhr langsam weiter. Sie schüttelte verwundert den Kopf.

      „Werfen Sie mir den Schlüssel einfach in den Briefkasten. Sie haben das Auto dann am nächsten Tag wieder.“

      Sarah winkte noch mal aus dem offenen Fenster. Sie war immer noch über die plötzliche Kommunikationsbereitschaft des Pfarrers verwundert.

      Als sie die Straße zu ihrem Grundstück hochfuhr, sah sie schon von weitem ihren Vater in der Einfahrt hin und her laufen. Wild gestikulierend telefonierte er. Vor dem Grundstück stand Falkners Auto. Der Baustopp schien also nicht nur eine Formalität zu sein, sondern sorgte dafür, dass Falkner persönlich vorbeischaute. Vermutlich wollte er seinen Triumph ihrem Vater gegenüber auskosten. Sarah fuhr bis vor die Einfahrt. Sie stieg aus, nickte der alten Frau zu und musterte ihren Vater. Er hielt kurz inne, nahm das Handy vom Ohr und flüsterte halblaut zu Sarah:

      „Bitte nicht jetzt.“

      Aha. Ihre Mutter hatte ihren Mann scheinbar schon vorgewarnt. Sarah betrat langsam den Hof. Falkner war mit Verstärkung angerückt. Über Plänen und Akten vertieft, lehnten drei Männer an dem alten Holztisch. Gustav saß gelassen in seiner Raupe und nickte Sarah nur zu.

      „Hallo, Frau Fender.“ Falkner kam langsam auf Sarah zu. „Ich habe es Ihnen ja gesagt, wir sehen uns wieder.“

      Sarah tat gleichgültig. „Aber mein Haus darf ich noch betreten?“

      Falkner ging ihr aus dem Weg.

      „Sarah!“, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Beide gingen in Richtung Haus. „Sarah, bitte warte!“ Der Ton ihres Vaters klang leise. Sarah blieb stehen und ließ sich von ihrem Vater einholen.

      „Ich vermute, dass du Erklärungen von mir hören willst. Ich will mich davor auch nicht drücken, aber bitte nicht jetzt und nicht heute. Drin sind noch die Handwerker. Warmwasser und Strom geht jetzt. Die Treppe wird später repariert.“ Kurz und bündig war die Berichterstattung ihres Vaters, der sich auch gleich in Richtung Falkner aufmachte.

      „Die Treppe …“, wollte Sarah sich noch beklagen, gab die Hoffnung aber auf, da ihr Vater schon wieder mit den Gedanken woanders zu sein schien. Sie betrat das Haus. Dank der Handwerker sah alles wieder aus wie am ersten Tag. Anhand der Fußspuren konnte sie genau die Laufwege der Handwerker nachvollziehen. Nicht eine einzige Spur führte zu der Treppe ins Obergeschoß. Ein Pfiff ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.

      „Hallo, schöne Frau!“

      „Die Treppe?“

      „Ist da hinten“, erwiderte ein schlaksiger Kerl im Overall und setzte ein breites Grinsen auf. Sarah postierte sich frontal vor ihm. Sie stand kerzengerade, streckte ihre Brust raus und stemmte die Arme in ihre Hüfte.

      „Ach, einen Witzbold haben wir hier.“ Der schlaksige Kerl ließ sich von Sarah nicht aus der Ruhe bringen.

      „Ob nun Witzbold oder nicht, auf alle Fälle kein Zimmermann.“ Wieder dieses breite Grinsen. Durch die Badezimmertür lugte auf einmal noch ein zweites Gesicht. Dasselbe Grinsen.

      „Mal ganz ehrlich“, legte das Badezimmergesicht los, „ob in der Stadt oder auf dem Land, Gas-, Wasser-, Scheiße-Klempner finden Sie an jeder Ecke, aber einen guten Zimmermann, da muss Papi sich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen.“

      „Scheiß Osten“, grummelte Sarah ganz leise und wandte sich ab.

      „Das habe ich gehört“, entgegnete der schlaksige Kerl und murmelte genauso leise: „Scheiß West-Tussi.“

      „Das habe ich auch gehört“, bemerkte Sarah, die im Begriff war wieder rauszugehen. „Ich hoffe, ihr wollt jetzt nicht die Mauer wieder haben?“, legte sie noch zwischen Tür und Angel nach.

      Die beiden Handwerker standen jetzt nebeneinander im Raum, verschränkten ihre Arme vor der Brust und starrten Sarah hinterher.

      „Bei so einem geilen Arsch …, auf keinen Fall!“

      Sarah marschierte langsam an ihrem Vater und den Leuten vom Bauamt vorbei. Bei Gustav setzte sie sich auf die übergroßen Stahlteile der Kette seiner Planierraupe. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die Sonne und die Ruhe. Gustav beugte sich vor und verfolgte die wilde Diskussion der Männer.

      „Det wird dem Alten nicht schmecken. Is wie‘n Albtraum. Da willste bauen, und die Sesselpupser haben nüscht Besseres zu tun, als dir nen Knüppel zwischen de Beene zu schmeißen.“

      „Was ist denn los?“

      Gustav lehnte sich wieder zurück in sein Führerhaus.

      „Das Gehöft war mal ein Gutshaus und ist vorgemerkt für das Verzeichnis denkmalgeschützter Gebäude.“

      „Und?“ Sarah blickte interessiert zu Gustav.

      „Der Alte hat keine richtige Baugenehmigung. Nur so ein Sonderwisch vom Scherzinger. Damit kann er gerade mal den Ofen anheizen.“ Gustav sprach, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

      „Und nun?“, bohrte Sarah weiter.

      „Und nun klären die Herren, was gemacht werden darf und was nicht.“

      „Aber …“, wollte Sarah weiterfragen.

      „Nichts aber. Der Denkmalschutz soll wohl für das ganze Gelände gelten. Nicht nur die Häuser, auch da drüben das Grundstück gehört dazu.“ Gustav zeigte in die Richtung der alten Frau.

      „Das ist doch ein ganz anderes Grundstück?“

      „Nein, äh ja.“ Gustav schien überfordert. „Denkmalschutz macht keinen Halt vor Grundstücksgrenzen. So was nennen die dann Orchesterschutz oder so ähnlich.“

      Sarah blickte Gustav verwundert an. „Orchesterschutz? Du meinst Ensembleschutz.“

      „Na sag ick doch.“

      „Muss ich jetzt wieder raus aus dem Haus?“

      „Quatsch!“ Gustav verdrehte die Augen. „Nur Vorschriften, Vorschriften und allet so’n Scheiß. Die Scheune darf auch nicht abgerissen werden.“

      „Die Scheune sollte weg?“

      „Ihr solltet mehr miteinander reden. Frag deinen Vater.“

      Sarah grübelte. Gustav hatte recht. Bis heute wusste sie nicht so richtig, was ihr Vater eigentlich vorhatte. Sie hatte auch nie gefragt. Wie in Trance durchlebte sie die letzten Wochen und Monate.

      „Das werde ich“, nahm sich Sarah vor.

      Mit einem Schwung hüpfte sie von der Raupe und bewegte sich langsam auf die lautstark diskutierenden Männer zu.

      „Kann ich helfen?“

      Das Gespräch verstummte. Erst jetzt sah Sarah, dass ihr Vater schon wieder telefonierte. Der Schlipsknoten war runtergezogen und der oberste Hemdknopf war offen. Sarah deutete das als ein schlechtes Zeichen. Ihr Vater legte Wert darauf, in jeder Situation akkurat auszusehen. Sein jetziger Zustand ließ darauf schließen, dass er schwer damit zu tun hatte, Herr der Lage zu sein. Von seinem Gespräch verstand sie nur