Tonda Knorr

Totenwache


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das ist okay.“

      Lisa streckte ihren Arm über den Tisch und drehte ein paar Mal den Kopf hin und her. „Und wenn ich ganz ehrlich bin, krieg ich da auch mehr Geld.“

      Sarah kniff wieder die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. „Warum hast du mir nichts erzählt?“, wiederholte sie ihre Frage.

      „Wann denn? Du warst eine Ewigkeit im Krankenhaus, dann bist du zur Reha, dann die Untersuchungen. Du hast nicht zurückgerufen. Dann wurdest du in den Ruhestand versetzt, und dein Vater hat gesagt, du willst keinen sehen.“

      Sarah blickte Lisa entsetzt an.

      „Mein Handy habe ich bis heute noch nicht wieder. Beweismaterial. Es stimmt schon, ich wollte niemanden sehen. Aber du bist doch nicht niemand, du bist doch meine Freundin.“ Sie machte eine Pause. In ihrem Augenwinkel schimmerte eine Träne. „Aber dich … dich doch immer. Mein Vater hat mir nie was gesagt.“ Die Träne suchte sich den Weg über die Wange und blieb an Sarahs Kinn hängen. „Die haben dich versetzt, dir mehr Geld gegeben und mich in den Ruhestand versetzt. Und schon denken die, die Welt ist in Ordnung.“

      Für einen Augenblick starrten sie beide in das Kerzenlicht. Sarah winkte Lisa mit dem Kopf zu sich auf die Couch.

      „Es tut mir so leid.“

      Lisa stand auf, ging um den Tisch und setzte sich neben Sarah. Ihre Decke legte sie um Sarahs Schultern. Sarah genoss die wohlige Wärme und kuschelte sich an Lisa. Dann begann sie von ihrem Gespräch mit Bernhard Kuntz zu erzählen.

      *

      Sarah öffnete ihre Augen. Das Sonnenlicht blendete sie. Sie lag ausgestreckt auf dem Bauch in dem überdimensionalen Bett. Sie ließ sich wieder in das Kissen fallen und merkte, dass der Rotwein seine Spuren in ihrem Kopf hinterlassen hatte. Ihre Hand tastete vorsichtig das halbe Bett ab. Von Lisa keine Spur. Sie suchte nach einer Uhr. Halb elf, verriet ihr schließlich die Anzeige des Videorecorders. Vor lauter Anstrengung, die ihr das Bewegen des Kopfes machte, atmete Sarah lange aus. Lisa hatte definitiv recht. Früh aufstehen ist der erste Schritt in die falsche Richtung. Sie kniete sich hin. Das dünne Laken, mit dem sie bedeckt war, rutschte ihren Rücken runter. Ihr Blick landete wieder auf ihrer vernarbten Schulter. Die Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Sie musterte das riesige Loft. 138 Quadratmeter, hatte Lisa ihr damals freudestrahlend erzählt. Keine Wände, alles in einem Raum. Nur die Toilette und das riesige Bad waren abgetrennt.

      „Da stell ich was vor die Eingangstür und mittenrein knall ich mir die größte Wanne, die ich finden kann. Am besten einen Whirlpool.“ Sarah kann sich noch genau an Lisas Worte erinnern. Wegen dem Whirlpool hatte sie sich ewig mit dem Vermieter gezofft, hatte aber nichts genutzt. Es blieb bei der Badewanne mitten im Raum. Als ob das einen Unterschied macht. Das Loft sah nicht nur am heutigen Morgen aus wie das Zimmer eines pubertierenden Mädchens, das sich für die Disco fertig machte. Kreuz und Quer lagen Lisas Sachen zwischen CDs, Pizzaschachteln und sonstigen Dingen auf dem Fußboden verteilt. Auch Lisas Computerecke war übersät von Klamotten, leeren Zigarettenschachteln und anderem Kram. Sarahs Blick blieb an der Technik hängen. Monitore, Rechner, Kabel, Strippen, zwei Tastaturen und Teile, die von Lisa immer als das neueste und beste gepriesen wurden. Mit Computern konnte Lisa umgehen. Für Sarah war das alles eine fremde Welt, aber Lisa, die war voll auf der Höhe der Zeit.

      „Was Bill Gates kann, das kann ich auch“, waren immer ihre Worte. „Bloß das der eine Schweinekohle damit verdient“, ergänzte sie dann meistens noch. Ein aufs andere Mal konnte Lisa ihr durch ihre Computerfertigkeit helfen. Sie loggte sich in fremde Netzwerke ein, und Sarah grübelte, ob das nicht die Grenze der Legalität überschritt.

      „Mach dir mal keine Sorgen, schließlich sind wir die Polizei“, beschwichtigte sie ihre Freundin dann immer. Auch vor dem Polizeirechner machte sie nicht halt, und selbst Haagedorns Spur konnte sie bis nach Holland verfolgen, aber irgendwann verlor sie den Kontakt. Sarah bemühte sich aufzustehen und schlenderte zu der im amerikanischen Stil gehaltenen Küche. Im Vorbeigehen hob sie Lisas immer noch nasse Jeans auf. Sie lag an derselben Stelle, an der Lisa sich gestern Abend ihrer entledigt hatte. Die Küche war überraschenderweise aufgeräumt. In der Kaffeemaschine duftete noch Kaffee. Sarah goss sich eine Tasse ein und schwang sich in ihrem Evakostüm auf einen der Barhocker. Auf dem Tisch stand ein Glas mit einer Rose, ein Teller mit einem frisch aufgebackenen Croissant und ein Brief von Lisa. Sarah knabberte an dem Croissant, schnupperte an der Rose und begann den Brief zu lesen.

      „Liebe Sarah, bleib so lange, du willst. Meine Wohnung ist dein Zuhause.“ In großen Buchstaben las sie dann FREUNDIN. Sarah schmunzelte und drehte das Blatt um. Auf der Rückseite stand:

      „P.S.: Die Aspirin liegen auf der Mikrowelle.“ Sarah ging langsam zur Mikrowelle und musterte die Aspirin-Schachtel. Sie nahm gleich zwei, lehnte sich an den Küchentisch und durchwanderte mit ihren Augen das Schlachtfeld. Dann duschte sie ausgiebig, räumte das Loft auf und schrieb Lisa einen Brief.

      „Du solltest dir mal eine Vase zulegen. Ich muss mein Leben wieder in den Griff bekommen. Besuch mich. Wenn du Glostelitz findest, findest du auch mich. DANKE.“ Sarah überlegte kurz. Dann unterschrieb sie den Brief mit (Beste) FREUNDIN.

      Sarah nahm ihre Tasche, ihren Schlüssel, drehte sich noch mal um und zog langsam die Tür ins Schloss.

      *

      „Sind meine Eltern da?“

      „Guten Tag, Frau Fender.“

      „Hallo Elisabeth. Sind meine Eltern da?

      „Wie geht es Ihnen?“, fragte Elisabeth immer noch ruhig und gelassen. Sie ließ sich von Sarahs Hektik nicht anstecken.

      „Mir geht es ganz gut.“ Sarah bemühte sich um ein Lächeln. „Elisabeth. ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass du mich Sarah nennen sollst.“

      „Na ja, Sie sind die Tochter vom Chef.“

      „Elisabeth.“ Sarah fasste Elisabeth mit beiden Händen an die Schultern. „Du bist doch hier die gute Seele des Hauses. Als kleines Kind habe ich schon unter deinem Schreibtisch gespielt. 1989 am Brandenburger Tor, als ich noch gar nicht so recht wusste, was da hinter der Mauer ist, hast du dir mit meinem Taschentuch die Tränen getrocknet. Für dich bin ich immer Sarah.“ Sarah drückte Elisabeth herzlich und erinnerte sich, wie ihre Mutter und sie protestiert hatten, als ihr Vater mal auf die Idee gekommen war, eine junge Sekretärin einstellen zu wollen. Ihre Mutter hatte nur gesagt:

      „Wenn Elisabeth geht, dann gehen wir auch. Wenn du junge Hühner begaffen willst, hol dir gefälligst ’ne Zeitung.“ Mit einem energischen Blick und Sarah samt ihrer Puppe im Arm an ihrer Hand, hatte sie ihre Drohung untermauert. Das war jetzt über fünfundzwanzig Jahre her, und das Thema war seither ein für allemal vom Tisch.

      „Sind sie da?“ wiederholte Sarah leise ihre Frage.

      „Nur Ihre Mutter. Ihr Vater musste raus nach Glostelitz. Es gibt Ärger.“

      „Was?“ Nicht, dass Sarah die Nachricht groß beeindruckt hätte, aber ihr Interesse weckte sie schon. Sie wollte ihrem Vater nach den Gesprächen mit Kuntz und Lisa ein paar unbequeme Fragen stellen und ärgerte sich nun, dass sie sich umsonst einen Schlachtplan zurechtgelegt hatte.

      „Ich geh mal rein“, zwinkerte sie Elisabeth zu.

      Marianne saß hinter dem klobigen, verschnörkelten Schreibtisch ihres Mannes. Sarah konnte das Ding noch nie leiden. Als kleines Kind hatte sie sich immer beim umherkrabbeln an den geschwungenen Holzleisten den Kopf gestoßen. Deshalb hatte sie auch lieber bei Elisabeth unterm Tisch gespielt als bei ihrem Vater. Ihre Mutter war vertieft in die Akten. Ihre Lesebrille saß so weit unten auf der Nase, dass Sarah ihr, als sie aufschaute, in die Augen sehen konnte. Trotzdem nahm Marianne die Brille ab und ließ sie an der Goldkette runterhängen.

      „Das ist aber schön, dass du vorbeischaust“, begrüßte sie ihre Tochter.

      „Wo ist denn Herbert?“

      Marianne stand auf und ging um den Schreibtisch.

      „Erstmal sagt man guten Tag.“ Sie