Tonda Knorr

Totenwache


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Ich höre wohl nicht richtig.“

      „Doch, Mama, du hörst richtig. Meine Versetzung in den Ruhestand, das eingestellte Verfahren, die Gutachten, bei alldem hatte Herbert seine Hände im Spiel. Sogar Lisas Versetzung ist mit auf seinem Mist gewachsen.“ Sarah redete sich in Rage. „Das ist so verlogen!“

      „Sarah“, unterbrach ihre Mutter sie forsch. „Du redest hier von deinem Vater.“

      „Nein, Mama, ich rede hier von deinem Mann.“

      „Eben deshalb, weil du hier von meinem Mann, deinem Vater, redest, solltest du dir überlegen, was du sagst. Überschätzt du ihn da nicht ein bisschen? Dein Vater wollte nur, dass das endlich ein Ende hat.“ Marianne Fender versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen.

      „Na klar. Typisch Fenders. Einer deckt den anderen. Bloß nicht an der Fassade kratzen.“

      „Ich weiß gar nicht, was du hast. Lisa geht es doch gut im Polizeipräsidium.“

      „Weißt du, warum man sie versetzt hat?“

      „Soviel ich weiß, weil sie darum gebeten hat.“

      Sarah hielt sich die flache Hand vor die Stirn und verweilte für einen Augenblick so.

      „Mama“, sagte sie eindringlich, „Lisa wurde nahegelegt, sich versetzen zu lassen. Bernhard wollte sie unter seinen Fittichen haben, und Herbert hat das forciert. Lisa hat unserem Vorgesetzten eine Kaffeetasse um die Ohren gehauen und ihm ihre Meinung gesagt.“

      „Na, temperamentvoll war sie ja schon immer.“

      Sarah blickte ihre Mutter an und fragte sich, ob sie sie nicht verstehen wollte oder nicht konnte. Marianne stellte sich ans Fenster. Sarah folgte ihr und stellte sich neben sie. Sie blickte sie von der Seite an.

      „Mama.“ Sarah machte eine Pause. „Die haben mich eine Misthure genannt. Eure Tochter. Wie kommen die auf so was?“

      „Was?“ Marianne blickte Sarah entsetzt an.

      „Ach, das hat dir wohl keiner erzählt. Lisa war die Einzige, die zu mir stand.“

      „Wir stehen auch zu dir.“

      „Ihr manipuliert mein Leben, und dein Mann verrät seine eigene Tochter.“

      „Sarah.“ Mariannes Ton wurde leise und eindringlich. „Was sagst du da? Dein Vater würde nie etwas tun, was nicht in deinem Interesse ist. Er wollte, dass du endlich zur Ruhe kommst.“

      „Er will mich kontrollieren. Ihm hat es doch noch nie gepasst, dass ich zur Polizei gegangen bin.“

      „Das ist ja wohl auch kein Frauenberuf. Er wollte seine Tochter nicht verlieren. Er hat doch nur dich. Er will dich doch nur beschützen.“

      „Mama, ich bin Polizistin. Ich brauche seinen Schutz nicht.“

      „Das haben wir ja gesehen“, entgegnete Marianne entrüstet.

      „Hör auf damit. Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Schutz brauche. Ich habe gesagt, dass ich seinen Schutz nicht brauche. An dem Abend hätte ich Schutz gebraucht, aber nicht von ihm.“ Sarah machte eine Pause. „Die Leute, die mich an dem Abend hätten beschützen sollen, die sind noch da.“

      „So geht das nicht“, flüsterte Marianne wieder und schaute dabei aus dem Fenster. Erneut machte sich eine gespenstische Ruhe breit.

      „Ich fahre jetzt.“ Auf halbem Weg zur Tür drehte Sarah sich noch mal um. „Ich verstehe Tim, dass er lieber um die Welt reist.“

      „Sarah.“ Marianne ignorierte die letzte Bemerkung ihrer Tochter. „Mach jetzt nichts Falsches. Herbert ist in Glostelitz. Es wurde ein Baustopp verhängt. Denk bitte an seine Gesundheit, und vor allem denk daran, dass er dein Vater ist. Ich möchte meinen Mann nicht verlieren. Das ist die Sache nicht wert.“

      „Eure Wertvorstellungen. Willst du lieber deine Tochter verlieren?“ Sarah verließ das Zimmer, ohne sich zu verabschieden.

      „Wie kann man jemanden nur vor so eine Wahl stellen!“, hörte sie ihre Mutter noch hinterher rufen.

      *

      „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Immer wieder haute Sarah mit der Hand auf ihr Lenkrad. Den ganzen Weg ärgerte sie sich über das Gespräch mit ihrer Mutter. Auf der Landstraße kurz vor Glostelitz fuhr sie das Auto an den Straßenrand. Sie sprang raus, knallte die Tür zu und trat mit dem Fuß gegen den Reifen. Nur langsam konnte sie sich wieder beruhigen. Sie lehnte sich gegen die Motorhaube und zündete sich seit langem mal wieder eine Zigarette an. Sie war stolz, dass sie selbst gestern Abend bei Lisa nicht geraucht hatte. Sie dachte an Lisa und daran, wie sehr sie ihr in den letzten Wochen und Monaten gefehlt hatte. Über die Felder konnte sie in weiter Ferne die Dächer von Glostelitz erkennen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie schon eine gewisse Verbundenheit zu ihrer neuen Bleibe spürte. Sie betrachtete die halb aufgerauchte Zigarette und schmiss sie weg. Wie sollte sie nur ihrem Vater gegenübertreten? Ihr klangen noch die mahnenden Worte ihrer Mutter in den Ohren. Aber die Sache auf sich beruhen lassen, konnte und wollte sie auch nicht. Sie fürchtete sich davor, dass der Konflikt eskalieren könnte. Zögernd setzte sie sich wieder ins Auto. Einen Augenblick noch hielt sie inne, dann fuhr sie los. Langsam bog sie nach Glostelitz ein. In den Ort führte nur diese eine Straße. Mehr waren auch nicht nötig. Die Häuser reihten sich fast aneinander. Nur ab und zu ging eine Straße rechts und links ab, aber auch da standen nur ein paar Häuser. Fast alle waren große Gehöfte. Alt und von den Jahren gezeichnet. Die neuen Häuser konnte sie an einer Hand abzählen, und selbst die schienen teilweise unbewohnt. Hier musste früher viel Landwirtschaft betrieben worden sein. Aber nichts schien hier so, als ob wirtschaftlich noch was in Bewegung wäre. Eines der Häuser deutete auf eine alte Werkstatt hin. Es war das größte einzeln stehende Haus am Dorfanger. Mit großen, verwitterten Buchstaben stand Schlosserei Gram an der Giebelwand.

      „Der Pfarrer“, flüsterte Sarah vor sich hin.

      Neben der Schlosserei, fast in der Mitte des Dorfes, war ein größerer Platz, der nicht zum eigentlichen Dorfplatz im herkömmlichen Sinne gehörte, der aber erahnen ließ, dass hier früher mal ein noch größeres Haus, vielleicht eine Kirche, gestanden haben musste. Kurz bevor sie in die Straße einbog, die den Hügel hinauf zu ihrem Haus führte, kam sie an dem Haus vorbei, in dem Pfarrer Gram wohnen musste. Kein Schild wies darauf hin. Rätselnd blickte Sarah auf die Fenster. Sie meinte, gesehen zu haben, wie sich eine Gardine bewegt hatte. Unschlüssig hob sie sicherheitshalber die Hand zum Gruß. Wo war sie hier nur gelandet? Der ganze Ort schien ihr rätselhaft. Ganz selten sah sie hier Leute auf der Straße. Keine Kinder, keine Tiere, nichts, was auf ein normales Leben auf dem Land hingewiesen hätte. Selbst die alte Kneipe gleich neben dem Gemeindehaus machte einen unscheinbaren Eindruck. Plötzlich musste Sarah bremsen. Der Pfarrer stand wie aus heiterem Himmel vor seiner Toreinfahrt. Sarah stieg aus.

      „Hallo, Herr Pfarrer!“

      „Herr Gram tut es auch“, erwiderte der Pfarrer mürrisch.

      „Ist es hier immer so totenstill?“ Der Pfarrer zuckte mit den Schultern.

      „Es ist früher Nachmittag. Die meisten, die noch einen Job haben, sind in der Stadt. Was haben Sie erwartet?“

      Sarah blickte sich um. Ja, was hatte sie erwartet?

      „Wenn Sie Zeit haben, kann ich Ihre Tür reparieren“, bot der Pfarrer an.

      Sarah blickte ungläubig.

      „Ihre Autotür ist doch kaputt.“

      Sarah stammelte:

      „Woher wissen Sie …?“

      Der Pfarrer schaute gleichgültig drein. „Na, ich habe doch Augen im Kopf, und wenn jemand auf der Beifahrerseite ein und aus steigt, kann man davon ausgehen, dass die Fahrertür kaputt ist, oder?“

      „Wieso können Sie …?“ Sarah verschluckte den Rest des Satzes und drehte sich zu dem Haus um, an dem Schlosserei Gram stand.

      „Ja,