Tonda Knorr

Totenwache


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um ihren Vater zur Rede zu stellen, war denkbar ungünstig. Er war angeschlagen. Die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer und die Augenringe dunkler zu sein.

      Sarah blickte wortlos in Falkners Gesicht. Der musterte ihren Vater. Sarah hatte das Gefühl, dass Falkner triumphierte.

      „Wo ist das Problem?“, wollte sie wissen.

      Ohne Sarah auch nur anzusehen, antwortete Falkner:

      „Kein Problem. Ihr Vater hält sich nur nicht an die Spielregeln.“

      „Das hatten wir doch schon. Probieren wir es mal ohne ihre Machtspielchen.“

      Falkner schaute Sarah ärgerlich an.

      „Wer hat denn damit angefangen? Es gibt Vorschriften und Festlegungen, an die sich jeder zu halten hat. Auch Ihr Vater. Da nutzt auch keine Sondergenehmigung was, schon gar nicht bei Sachen, die den Denkmalschutz betreffen.“

      Sarah beschlich das Gefühl, dass Falkner die jetzige Situation richtig auskostete.

      „Was muss denn hier geschützt werden?“

      „Junge Frau, das entscheiden wir doch nicht. Lassen Sie sich nicht von dem gut erhaltenen Zustand täuschen. Das Gehöft ist über hundert Jahre alt. Das war mal ein Gut, das hat doch Geschichte.“

      Sarah wollte beiläufig erwähnen, dass ihre Treppe alles andere als in einem guten Zustand war, fand die Bemerkung aber nicht passend.

      „Das hat doch die letzten Jahrzehnte auch keinen interessiert.“

      „Eben, dann wird es ja Zeit, Frau Fender! Wollen wir jetzt über die deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte diskutieren?“

      Sarahs Vater hatte aufgehört zu telefonieren und verfolgte wohlwollend den Enthusiasmus seiner Tochter.

      Gustav schmiss seine Raupe wieder an. Aufgeschreckt beobachtete Sarah, wie die Männer reagierten. Falkner verzog keine Miene.

      „Keine Sorge. Solange er hier kein Haus abreißt und nur das Gelände begradigt, kann er hier machen, was er will“, beschwichtigte Falkner.

      „Was ist mit dem Neubau?“ Herberts Stimme hörte sich kratzig an.

      Genervt wandte sich Falkner an Sarahs Vater.

      „Sagen Sie mal, hören Sie mir nicht zu? Kein Abriss, kein Neubau ohne Baugenehmigung. Sie können den Garten umbuddeln, ein paar Blumen pflanzen und von mir aus das Wohnhaus pinseln. Aber nur innen. Mehr nicht. Verstanden?“

      „Sie aufgeblasener Fatzke, da investiert man und schafft Arbeitsplätze, und dann kommt so ein dahergelaufener Wichtigtuer und reitet auf seinen Paragraphen rum.“ Herbert Fender drohte die Fassung zu verlieren. „Kein Wunder, dass in Ihrem Land nichts vorwärtsgeht.“

      Der fast einen Kopf kleinere Falkner trat bis auf Tuchfühlung an Herbert heran.

      „Jetzt hören Sie mir mal zu. Bei allem Respekt, ich weiß nicht, was Sie für eine große Nummer in Berlin sind. Ich weiß auch nicht, warum Scherzinger ihnen eine Sondergenehmigung gegeben hat. Vermutlich hängt das mit Ihrem Fabrikneubau zusammen. Aber seien Sie mal ehrlich, Sie hätten das neue Werk doch sowieso gebaut. Fördermittel, Investitionszulagen, das ganze Programm. Sie kriegen den Hals doch nie voll. Kommen hier mit Ihrem dicken Auto vorgefahren und wollen den Osten für’n Appel und’n Ei kaufen und denken, Sie könnten sich über jede Vorschrift hinwegsetzen.“

      Sarah erlebte das erste Mal, wie sich jemand ihrem Vater entgegenstemmte. Die Halsschlagader ihres Vaters pulsierte wie verrückt. Mit der rechten Hand griff sich Herbert Bender an die Brust und schnappte nach Luft. Sarah beobachtete Falkners Kollegen. Sie versuchten Falkner zu beruhigen.

      „Lass gut sein.“

      Sarah blickte hilfesuchend zu Gustav. Keiner hatte bemerkt, dass die Raupe keinen Krach mehr machte. Gustav stand vor der riesigen Schaufel und starrte fassungslos auf den aufgeschobenen Berg Erde. Langsam drehte er den Kopf in Herberts Richtung. Ohne das kreidebleiche Gesicht zu bewegen, zeigte er mit der Hand auf den Haufen.

      „Was ist?“, schrie Herbert Fender immer noch aufgebracht.

      „Ein Albtraum.“

      Sarah überkam ein ungutes Gefühl. Sie kannte Gustav, seitdem sie denken konnte. Sie kannte auch sein ewiges Rumgenörgel, und manchmal nervte sie auch der immer wieder strapazierte „Albtraum“. Noch nie hatte sie das Gefühl so wie jetzt, dass es Gustav ernst damit war.

      „Haste die Kabel zerrissen?“ Herberts Stimme überschlug sich.

      „Da liegen keine Kabel“, stammelte Falkner.

      Sarah begab sich langsam zu Gustav. Die Männer folgten ihr. Sie beobachtete, wie sich ihr Vater immer noch die Hand an die Brust hielt.

      „Geht’s?“

      Herbert reagierte nicht.

      „Was ist?“ Angekommen an dem Erdhügel suchte Herbert Fender nach einer Erklärung für Gustavs Verhalten. Er postierte sich zwischen die Raupe und den Hügel. Falkner und seine Kollegen stellten sich auf die andere Seite des Berges. Sarah beobachtete beim Laufen die alte Frau und musste feststellen, dass die sich erhoben hatte und entsetzt ihre Hände vors Gesicht hielt. Verwundert über die plötzliche Reaktion verlangsamte sie ihren Schritt und blieb fast stehen.

      „Was denn? Die paar Knochen …“ Herbert verschluckte den Rest des Satzes. Er erinnerte sich daran, wie er auf Sarahs Worte reagiert hatte, als sie solch einen ähnlichen Knochen in der Hand gehalten hatte.

      „Viecher?“

      Gustav, Falkner und seine Kollegen schauten Herbert Fender kreidebleich an. Gustav, der auf der anderen Seite des Berges stand, zeigte erneut auf eine Stelle am Fuße des Haufens. Langsam ging Herbert auf die andere Seite. Auch hier lagen Knochenreste, aber nicht nur.

      „Und die Viecher haben Uniformen angehabt, oder was?“

      Aus der Erde ragte der Kolben einer alten, verwitterten Maschinenpistole, und es fiel Herbert Fender nicht schwer, die drum herumliegenden Stofffetzen als Reste einer russischen Uniform zu deuten. Man erkannte ganz deutlich den roten Stern auf den verdreckten Resten eines Schulterstückes. Herbert lehnte sich rücklings an die Scheunenmauer und schaute zum Himmel hoch. Es gab keinen, der ihn nicht beobachtete und in seine Richtung schaute.

      „Was?“ Herbert Fender war irritiert, merkte aber, dass die Blicke nicht ihm galten, sondern den alten Klinkersteinen um ihn rum. Er trat einen Schritt vor, drehte sich langsam um und sah, was alle sahen. Auf den ersten Blick vielleicht nicht zu erkennen, war die Wand übersät mit kleinen Löchern und Abplatzungen. Sarah sah in die versteinerten Gesichter der Männer. Sie wollte mit der Hand ein Stück der Uniform freilegen. Dabei verrutschte die trockene schwarze Erde und ein menschlicher Totenschädel kullerte den Haufen hinunter. Sarah schreckte zurück und verharrte. Es herrschte Totenstille. Die Zeit, in der sie so um den Haufen standen, kam ihr endlos vor. Erst das klapprige Poltern eines Blechnapfes ließ sie aufhorchen. Sarah sah in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernahm. Auf der Straße stand dort, wo sonst die alte Frau saß, Pfarrer Gram. Vor ihm lag ein umgekippter Napf und in den Büschen hinter ihm konnte sie noch die alte Frau weghuschen sehen.

      „Dein Handy“, sagte sie stotternd zu ihrem Vater.

      „Hä?“

      „Dein Handy, gib mir bitte dein Handy.“

      „Was hast du vor? Nun überstürz mal nicht gleich alles.“ Pfarrer Gram trat zwischen Sarah und ihren Vater. Sarah bemerkte, dass der Pfarrer keineswegs verwundert war. Er nickte nur.

      „Sie sind schon unterwegs“, bemerkte er unbeteiligt.

      „Die örtliche Polizei wird da nicht ausreichen.“

      Pfarrer Gram musterte Sarah, machte aber nicht den Anschein, überrascht zu sein.

      „Ich weiß.“

      „Sie sind?“ Herbert Fender durchbrach das kurzsilbige Gespräch.

      „Werner