Tonda Knorr

Totenwache


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keine Haare mehr hatte, wollte sie das auch. Franks Mutter stand mittlerweile neben ihm.

      „Damit würde er jeden Wettbewerb gewinnen.“

      Minsky lächelte. „Wie geht’s ihm?“

      „Du kennst ihn doch. Wie soll es denn einem gehen, der suspendiert ist?“

      „Ist er nicht mehr.“

      „Was?“

      „Ist er nicht mehr.“

      „Na endlich. Willst du ein Bier, schön kalt?“

      „Bin im Dienst.“ Minsky bewegte sich langsam in Richtung Balkon. „Und erstmal abwarten. Das ist kein normaler Dienst.“ Franks Mutter rollte die Augen und ging mit zwei kalten Bier hinterher auf den Balkon. Sie kannte ihre Jungs.

      Minsky lehnte an der Balkonbrüstung. Unten auf dem Gehweg lungerten immer noch die Jungs. Mit den Fingern deutete er eine Pistole an und zielte auf die Jungs. Die Jungs winkten nur ab. Minsky drehte sich zur Seite, lehnte jetzt mit dem Rücken zur Brüstung und nahm von Franks Mutter, ohne zu zögern, das eiskalte Bier entgegen. Frank hing immer noch mit den Füßen an der Balkondecke. Mit speziell angefertigten Halterungen hatte er sich an einem Gestänge an der Decke eingehängt und machte im Hängen seine Situps. Sein Oberkörper war frei. An ihm war kein Gramm Fett. Durch die Schweißperlen wurde das Muskulöse nur noch unterstützt.

      „Ist ja ekelhaft, so ein Körper ohne Fehl und Tadel“, scherzte Minsky.

      Frank griff nach dem Bier und trank es, noch während er an der Decke hing.

      „Prost Alter!“

      Minsky deutete ein Zuprosten an, ohne ein Wort zu verlieren. Beim Trinken drehte er sich so, dass ihn die Jungs auf der Straße sehen konnten. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie denen die Zungen aus dem Hals hingen. Die Sonne ballerte immer noch gnadenlos.

      „Lass den Quatsch.“ Frank hängte sich aus und stand nun mit hochrotem Kopf aufrecht neben ihm. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Schweiß aus den Augenhöhlen. Jetzt begrüßten sie sich mit einem Handschlag.

      „Das ist hier keine Schicki-Micki-Gegend. Die haben keine Kohle für’n Bier. Die kommen auf die Idee und überfallen den alten Krauter an der Ecke, und dann müssen wir wieder ran. Besser gesagt du im Moment.“ Frank winkte den Jungs zu. Die sprangen auf und winkten zurück während er sich mit beiden Armen auf die Brüstung lehnte. „Dienstlich?“

      Minsky blickte Frank ins Gesicht. „Du bist wieder im Dienst.“

      „Cool, ich hatte mich zwar gerade dran gewöhnt, aber was soll’s.“

      „Warte, warte, nicht, was du denkst.“

      Frank blickte fragend zu Minsky. Die beiden setzten sich hin. Minsky legte Franks Dienstwaffe und seine Polizeimarke auf den Balkontisch.

      „Hey, hey, Franziska muss so was nicht haben.“

      „Na sollte ich die in Briefkasten schmeißen?“

      „Komm, erzähl.“

      Minsky kramte in seiner Jackentasche und zerrte ein paar Blätter vor. Frank begann zu lesen. Nach einer Weile schaute er zu Minsky auf.

      „Sonderkommission zur Aufklärung von Kriegs- und Nachkriegsverbrechen auf deutschem Territorium?“ Minsky reagierte nicht, beobachtete Frank nur.

      „Glostelitz?“ Frank verzog sein Gesicht. „Was soll der Scheiß? Polen?“

      „Quatsch. Glostelitz liegt in Brandenburg. Irgendein Kuhkaff.“

      „Im Osten? Na, schönes Ding.“

      „Nee, westlich von Berlin.“

      Frank sprang auf und lief hin und her. „Ich meine den Osten und nicht die Himmelsrichtung. Mann, ich bin Polizist, ich gehöre auf die Straße, hier auf die Straße und nicht in so ein Zonenkaff.“ Frank machte eine kurze Pause. „Und was für eine Sonderkommission? Was für Kriegsverbrechen? Spinnen die? Wessen Idee war das?“

      „Kuntz.“

      „Der alte Sack. Der will mir bloß eins auswischen. Haben die keine eigenen Leute? Was soll ich denn da?“

      „Steht doch alles da drin.“ Minsky stand jetzt auch auf.

      „Da steht drin, dass ein paar Knochen und ’ne Knarre gefunden wurden, aber nichts darüber, warum da ein Berliner Polizist hin muss.“

      „Mann, von der Sonderkommission hat doch keiner eine Ahnung von einer polizeilichen Untersuchung. Die haben zwei Stellen, in Berlin und Dresden. Die finden vielleicht alle paar Jahre mal einen Knochen oder ein altes Kriegsgrab.“

      „Da braucht’s doch keine polizeiliche Ermittlung.“

      Minsky verstand Frank nur allzu gut, hatte aber keine Lust, ihm den ganzen Mist zu erklären.

      „Scheiße, ich weiß doch auch nicht, was der Quatsch soll.“

      Frank setzte sich wieder und trank noch einen Schluck aus seiner Flasche.

      „Scheiße! Wann geht’s los?“

      „Morgen.“

      „Wann holst du mich ab?“

      „Gar nicht.“ Als Jacob antwortete, schaute er Frank ins Gesicht. Er musste nicht lange warten, bis sich ihre Blicke trafen.

      „Was?“

      „Nur du.“ Minsky verzog den Mund. Frank schloss die Augen. „Na bravo…“, murmelte er vor sich hin. „Und wie komm ich da hin?“

      Minsky wühlte in seiner Hosentasche.

      „Hier.“ Auf dem Balkontisch landete der Autoschlüssel.

      „Sonst noch was?“

      „Einmal die Woche will Kuntz informiert werden. Ansonsten hast du wohl alle Zeit der Welt“, schickte Minsky beiläufig hinterher.

      „Schon klar. Damit ich hier schön lange aus dem Verkehr bin.“ Die beiden erhoben sich.

      „Und grüß mir die Hühner.“

      Frank rüffelte Minsky für die Bemerkung mit einer Kopfnuss, während er ihn durchs Wohnzimmer geleitete. Franks Tochter saß vertieft vor dem Fernseher.

      „Mach’s gut, Franzi.“ Minsky tätschelte dem Mädchen wieder den Kopf. Als ob sie sich abgesprochen hätten, erwiderten Frank, seine Mutter und Franzi:

      „Franziska.“

      *

      Als Sarah erwachte, musste sie mal wieder feststellen, dass ihr das Schlafen auf der Couch einfach nicht bekam. Sie fühlte sich gerädert. Ihr sehnsüchtiger Blick ging zu der alten Holztreppe, die immer noch nicht repariert war und ihr somit die Nutzung der oberen Etage verwehrte. Erschwerend kamen noch die Ereignisse um die alte Frau und die Geheimniskrämerei von Pfarrer Gram hinzu. Die ganze Nacht hatte sie sich hin- und hergewälzt. Die Vorkommnisse ließen ihr keine Ruhe. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es Zeit war, Licht ins Dunkel zu bringen. Sie taumelte schlaftrunken zum Küchentisch, um sich zu notieren, dass sie unbedingt mit ihrem Vater über die Reparatur der Treppe reden musste. Vor allem nervten sie die umherstehenden Möbel. Oben war eine ganze Etage leer, und unten im Wohnzimmer konnte sie kaum treten. Mit Wohnlichkeit, auf die sie eigentlich immer Wert legte, hatte das nichts zu tun. Sarah legte den Zettel beiseite, rieb sich verschlafen die Augen und wollte sich einen Kaffee brühen. Sie registrierte, dass Gustavs Raupe heute mal nicht zu nachtschlafender Zeit rumröhrte, vernahm aber ein ihr nicht bekanntes Stimmwirrwarr und ein reges Treiben auf ihrem Hof. Die Augen, von der Sonne geblendet, noch zugekniffen, versuchte sie, durch das Küchenfenster etwas zu erkennen. Als erstes fielen ihr die zahlreichen rot-weißen Bänder auf, mit denen der halbe Hof um die Scheune abgesperrt war. Sogar Gustavs Raupe war abgesperrt. Sarah konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Gustav war weit und breit nicht zu sehen. Vermutlich saß er in seinem alten Bauwagen an der Straße