Tonda Knorr

Totenwache


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zog so seither von Baustelle zu Baustelle. Sarahs Vater hatte Gustav irgendwann mal aufgegriffen als er, wie er sagte, damit begonnen hatte, neue Wege zu gehen und nicht nur mit Maschinenbau, sondern auch mit dem Bau von Werkstätten und Gewerbehallen sein Geld zu verdienen. Herbert Fender sagte immer: „Wenn die Leute unsere Maschinen kaufen, wollen sie die schließlich auch irgendwo reinstellen.“ Seitdem gehörte Gustav dazu, und Sarah hatte, wenn sie mal aus dem Großstadttrubel raus musste, manchen Abend nach ihrem Polizeidienst bei ihm im Bauwagen gesessen und mit ihm stillschweigend ferngesehen. Gustav hatte sie dann von seinem Bier trinken lassen, und Sarah hatte ihm dafür oft genug einen Hamburger mitgebracht. Sie kannte keinen aus der Kriegsgeneration, der mit so einer Wonne wie Gustav amerikanisches Fast Food verschlang. Er strahlte dabei immer, blickte mampfend zu Sarah und sagte: „Wenn det meine Gerda sehen könnte, die würde mir den Löffel langziehen.“

      Sie beobachtete das Treiben der Leute. Vermutlich gehörten sie zu der Sonderkommission aus Berlin. In weißen Overals buddelten sie mit kleinen Schaufeln wie die Laubenpieper in den von Gustav zusammengeschobenen Erdhügeln. Am Rand lagen schon einzelne Plastiktüten, in denen die Knochenreste untergebracht waren. Sarah wandte ihren Blick wieder der Kaffeemaschine zu und bemerkte dabei, dass nicht unweit vor ihrem Fenster ein Mann mit dem Rücken zu ihr stand und über die weiten Felder starrte. Groß, athletisch, wie ein einzelner Baum in der Landschaft, stand er da. Die Arme verschwanden in den Seitentaschen seiner Jacke. Sarah schüttelte den Kopf. Nur ein Kripobeamter zog bei so einem Wetter eine Jacke an. Macht sich ja auch nicht gut, mit T-Shirt und Pistolenhalfter durch die Welt zu marschieren. Gerade im Sommer hätte auch sie viel lieber mal ein Kleid angezogen, aber für eine Polizistin war das kaum möglich. Sie verzog den Mund und stellte resümierend fest, dass sie das Problem ja nun nicht mehr hatte. Ihr Blick klebte förmlich am Rücken des Mannes. Sein Kopf drehte sich in Richtung der Männer, die wie besessen in der Erde wühlten. Sarah nahm sich ihre Tasse und ging zur Tür. Die Türklinke schon in der Hand, zuckte sie zurück und beschloss, sich mal doch lieber eine Hose anzuziehen.

      Barfuß schritt sie durch die Tür. Der Mann stand noch genau in derselben versteinerten Pose da wie kurz zuvor. Nicht die kleinste Reaktion konnte sie auf das erhebliche Knarren ihrer Haustür hin registrieren. Sarah blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.

      „Sie sind?“

      „Kriminalkommissar Wagner, Frank Wagner.“

      Der Mann drehte seinen Kopf, ohne seinen Körper zu bewegen, langsam um. Gerade wollte er gleichgültig den Kopf wieder zurücknehmen, als er beim genaueren Hinschauen die Hände aus den Taschen nahm und seinen ganzen Körper Sarah zuwandte. Er musterte sie von oben bis unten. Obwohl Frank sich für relativ abgebrüht hielt, konnte er ein erstauntes Lächeln nicht verbergen.

      „Wenigstens ein Lichtblick“, murmelte er vor sich hin. Sein Blick schweifte von Sarahs offenem, langem Haar über ihr vielleicht einen Knopf zu weit geöffnetes Hemd und die enge Jeans nach unten zu ihren unbekleideten Füßen. Sarah bemerkte die Musterung, und obwohl sie davon überzeugt war, dass ihr Gegenüber nicht zu viel Einblick hatte, hielt sie sich mit der Hand das Hemd zu. Fragend, mit großen Augen blickte sie zu Frank. Sie nickte kurz und wollte damit ihrer Verwunderung Ausdruck verleihen.

      „Die schicken also einen Kriminalkommissar, um ein paar Knochen zu sortieren.“

      „Die“, betonte Frank, „haben vermutlich Angst, dass einer der Knochen bewaffnet ist.“

      Frank grinste, bis er bemerkte, dass Sarah seinen Spruch wohl nicht so witzig fand.

      „Wer sind Sie denn?“

      „Sarah Fender.“ Sarah erwischte sich dabei, wie sie sich beinahe mit ihrem Dienstgrad vorgestellt hätte.

      „Sie gehören hierher?“

      Frank musterte das alte Gehöft.

      „Ich wohne hier, aber der Hof gehört meinem Vater.“

      „In der Akte steht was anderes“, erwiderte Frank kurzsilbig und blickte dabei auf die auf dem alten Tisch liegende Akte.

      „Was?“ Sarah konnte ihre Verwunderung nicht verbergen und wollte sich die Akte greifen.

      „Na, na, na.“ Frank kam ihr zuvor und schob die Akte beiseite. „Das ist eine polizeiliche Ermittlungsakte.“

      „Na und?“

      Schon wieder. Sarah verhielt sich erneut nicht wie ein normaler Zivilist. Frank blickte ihr verwundert ins Gesicht.

      „Tschuldigung.“

      „Da hat Papi dem Töchterchen ein Haus gekauft und …“ Frank hielt inne und verschluckte den Rest des Satzes, als er Sarahs aufgerissene Augen sah. „Na ja. Sollte vielleicht eine Überraschung sein.“

      Sarah hörte gar nicht richtig zu. Ihr Vater hatte mit keinem Wort erwähnt, dass ihr der Hof gehörte.

      „Spielt eigentlich auch keine Rolle. Was machen Sie beruflich, Frau Fender?“, fragte Frank weiter.

      „Nichts“, stotterte Sarah. „Nichts mehr“, ergänzte sie schnell. Erschrocken musste sie feststellen, wie schwer es ihr fiel, auf diese Frage zu antworten.

      „Ah, von Beruf Tochter.“

      „Was spielt das denn für eine Rolle? Ich bin keine Tochter von Beruf“, giftete Sarah zurück.

      „Keine“, entgegnete Frank knapp und drehte sich ab.

      „Was keine?“

      „Na keine Rolle meine ich.“

      „Warum ist das eine polizeiliche Ermittlung? Ich dachte, das ist ein Fall für die Sonderkommission zur Aufklärung …“

      Sarah entging nicht, wie überrascht sie der Kommissar ansah.

      „Ja?“

      „Na halt irgend so eine Sonderkommission für Kriegsverbrechen.“

      „Die sind ja da.“ Mit dem Kopf deutete Frank zu den Männern hinter den Absperrbändern.

      „Sie kennen sich aus?“, bohrte Frank weiter.

      „Hat der Wachtmeister äh …“

      „Rieck, Wachtmeister Rieck“, half Frank weiter.

      „Genau, hat Wachtmeister Rieck die so schnell rangeholt?“, setzte Sarah ihren Satz fort.

      „Also in der Akte steht, dass die Sonderkommission direkt vom Polizeipräsidium beauftragt wurde, und in einer Randnotiz ist vermerkt Telefonat Lisa …“. Frank überlegte.

      Sarah wurde verlegen und dachte bei sich, Wenger heißt sie. „Wie auch immer, auf alle Fälle ist es doch nicht alltäglich, dass bei so etwas die Kripo eingeschaltet wird.“

      Frank blickte wieder über die Felder.

      „Keine Ahnung. Ich kenn mich damit nicht aus. Der Polizeidirektor hielt es für notwendig. Also bin ich hier.“

      „Traumjob, was?“

      Frank drehte sich zu Sarah um.

      „Da wir gerade bei Träumen sind, was macht denn so eine junge, hübsche Frau hier inmitten dem ganzen Viehzeug auf dem Lande?“

      „Wo sehen Sie denn hier Viehzeug?“, fragte Sarah. Frank blickte sich um.

      „Ich heiße übrigens Frank“, überging er die Frage.

      „Das sagten Sie schon, Kommissar Frank Wagner. Und ich heiße Fender, Sarah Fender.“

      „Ich wollte nur ein bisschen das Eis brechen.“

      „Ich steh auf Eis“, erwiderte Sarah forsch.

      Frank blickte Sarah beeindruckt an. Sarah dagegen ging Frank einen Schritt entgegen und positionierte sich vor ihm.

      „Wir können uns ja zum Anfang darauf einigen, dass Sie Ihre Arbeit machen.“ Sarah blickte den Kommissar neugierig an und musterte genau sein Gesicht. Es passte mit seiner Herbheit genau zu seiner männlichen Gesamtausstrahlung.