Tonda Knorr

Totenwache


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der Pfarrer? Was meinte er mit zur Ruhe kommen? Fragen über Fragen. Sarah versuchte, durch das Fenster etwas zu erkennen. Die alte Frau saß am Tisch. Sarah schätzte sie weit über sechzig, vielleicht siebzig Jahre. Alt genug, um ein Geheimnis aus den Zeiten des Krieges zu verbergen. Sie war sehr gepflegt, trotz ihres Alters. Die Falten in ihrem Gesicht zeugten von einem langen, von einem gelebten Leben. Sie machten im schummrigen Licht den Eindruck, als wären sie gezeichnet. Vor ihr stand, wie Sarah vermutet hatte, eine dicke Kerze, wie man sie aus Kirchen kannte. Die Wohnungseinrichtung machte auf Sarah den Eindruck, als sei sie aus dem vorigen Jahrhundert. Ihr fiel auf, dass alles sehr ordentlich war. Alt, aber ordentlich. Weit und breit sah Sarah nichts, was auf die Neuzeit schließen ließ. Keine Mikrowelle, kein Kühlschrank, nichts. Die alte Frau wühlte in einer alten Holzkiste. Dieselbe kleine Kiste, die sie auch immer am Feuer dabei hatte. Vielleicht Briefe und alte Fotos, vermutete Sarah. Plötzlich klapperte neben ihr eine Blechschüssel. Sarah war gegen einen Napf getreten.

      „Mädchen, Mädchen, früher warst du aber vorsichtiger“, sagte sie leise zu sich selbst

      Sie schaute durchs Fenster. Die alte Frau blickte in ihre Richtung und erhob sich langsam. Sarah wollte sich zurückzuziehen. Beim Rückwärtsgehen ließ sie keine Sekunde die Tür aus den Augen. Innerlich suchte sie erneut vorsorglich nach einer Ausrede für den Fall, dass sie auf die alte Frau treffen würde. Sarah erreichte das Gebüsch und ging in Deckung. Mittlerweile war es schon dunkel, sodass es ihr nicht schwerfiel, sich zu verstecken. Die alte Frau trat durch die Tür. „Benno, bist du das?“ Ihr Blick suchte das Gebüsch ab. Sarah duckte sich. Nein, heute wollte sie die alte Frau mit ihren Fragen nicht überrumpeln. Aber wer war Benno? Die alte Frau blickte hoch zum Himmel.

      „Ja, es muss endlich ein Ende haben“, hörte Sarah die alte Frau sagen. „Es wird Zeit.“

      Sarah schlich zurück. Am Straßenrand suchte sie nach einem Briefkasten. Ihr Fuß stieß gegen einen Holzpfahl, der auf dem Weg lag. Am Ende des Pfahls war ein Holzkasten angebracht, der mal ein Briefkasten gewesen sein könnte. Sarah wischte das Gestrüpp beiseite. Auf einem alten Messingschild stand in altdeutscher Schrift Sina Rosenbaum.

      „Na wenigstens weiß ich schon mal, wie du heißt“, flüsterte Sarah. „Und den Rest kriege ich auch noch raus.“ Sarah überlegte kurz, ob sie den Pfahl wieder aufrichten sollte, ließ aber davon ab. Sie überquerte die Straße und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und suchte das Gebüsch ab. Hatte die alte Frau sie verfolgt? Ihr Blick richtete sich die Straße hinunter ins Dorf. Da stand er. Mitten auf der Straße. Sie konnte kaum die Umrisse erkennen, geschweige denn das Gesicht sehen, aber sie war sich sicher. Pfarrer Gram hatte sie beobachtet. Sarah drehte sich so, dass sie dem Pfarrer Visasvis, wenn auch weit entfernt, gegenüberstand. Sie wollte, dass er wusste, dass sie ihn gesehen hat. Wie in einem Western, bloß ohne Revolver, standen sie sich gegenüber. Mindestens fünfhundert Meter Luftlinie lag zwischen ihnen. Sie verharrten in der Pose. Wer würde als erster gehen? Der Pfarrer deutete einen Schritt in Sarahs Richtung an, drehte dann aber ab und verschwand in der Dunkelheit.

      „Na gut, mein Freund. Die Karten liegen auf dem Tisch.“ Auch Sarah konnte sich nicht verkneifen, in den Himmel zu schauen. Aus irgendeinem Grund musste sie an ihren Bruder denken, konnte sich aber nicht erklären, warum. Gustav hockte im Bauwagen, und auch der Wachtmeister war nicht mehr zu sehen. Sie ging zurück in ihr Haus, jedoch nicht, ohne noch mal einen Blick auf den Sandhaufen mit dem geheimnisvollen Fund zu werfen. „Was für ein beschissener Tag.

      Kapitel 6

      Die Sonne knallte erbarmungslos vom Himmel. Was für ein Sommer! Berlin war im Fußballfieber. Entweder waren die Straßen wie leergefegt oder sie quollen über vor lauter Menschen. Jacob Minsky stieg aus seinem BMW.

      „Alter, warum haste keene Fahnen am Auto?“

      Minsky dreht sich um. Er musterte die drei Jungs, die mit ihren Fahrrädern auf dem Gehweg rumlungerten.

      „Weil dt ein Polizeiwagen is und ick Bulle bin.“

      „Dürft ihr wohl nich.“

      Minsky blickte den offensichtlichen Redensführer der Truppe belustigt an, stützte seine Hände auf die Oberschenkel und beugte sich zu ihm vor.

      „Ick will nich.“

      Einer der Jungs stand auf.

      „Als Bulle musste dich aber postio … postituieren …“

      Sichtlich überrascht richtete Minsky sich wieder langsam auf. „Det heißt positionieren.“

      „Mir doch egal wie det heißt.“

      Minsky wischte sich, genervt von der Sonne und dem Gequatsche des Jungen übers Gesicht.

      „Sagt mal, warum sitzt ihr nicht vor der Glotze und guckt Fußball?“

      „Is grad ’n Gurkenspiel, außerdem is dit da interessanter.“ Die Jungs zeigten gleichzeitig hoch zu einem Balkon. Minsky drehte sich in die Richtung des Fingerzeigs. Die Sonne blendete, und er musste ein Auge zukneifen. Auf einem der Balkone sah man über die Brüstung die Beine eines Mannes verkehrt herum an der Decke hängen. Minsky musterte die Häuserfront.

      „Is och’n Bulle“, drehte er sich zu den Jungs um.

      „Dit da is Frank.“

      „Frank is n Bulle.“

      „Aber nich so wie du, der is cool.“ Die Jungs brachen in Gelächter aus.

      „Wie is denn ein cooler Bulle?“, wollte Minsky nun wissen. „Na wie Frank. Der hört uns auch mal zu. Der nimmt uns für voll, und der pisst uns nicht gleich an, wenn uns mal ne Kippe runterfällt. Nich so ein Schnösel wie du.“

      „Verpfeift euch bloß …“ Minsky zog genervt von dannen und ging auf das Haus zu. Er blickte mit einem Stirnrunzeln hoch zum Balkon. Durch die Sprechanlage hörte man eine junge Mädchenstimme.

      „Hallo? Wer ist da?“

      „Jacob.“

      „Welcher Jacob?“

      „Minsky, Jacob Minsky.“

      „Kenn ich nicht.“

      „Franzi, hör auf zu spinnen!“, hörte Minsky eine ältere Dame im Hintergrund rufen. Er erschrak von dem klirrenden Geräusch des Türsummers.

      Die Wohnungstür stand einen Spaltbreit offen. Als Minsky an die Türklinke fassen wollte, wurde die Tür von innen aufgerissen.

      „Hallo!“

      „Hallo Franzi.“ Minsky trat in die Wohnung. Als Begrüßung tätschelte er grinsend dem jungen Mädchen den Kopf. Er wusste, dass sie das nicht mochte, aber irgendwie musste er sich ja für die Fragen an der Sprechanlage revanchieren.

      „Ich heiße Franziska und nicht Franzi.“

      „Ja ja.“ Minsky schlenderte durch die Wohnung. Er kannte sich hier aus. Er blickte noch mal zu Franziska.

      „Papa?“

      „Hängt mal wieder uf’m Balkon.“

      Minsky war schon dahin unterwegs. Auf Höhe der Küche sah er Franks Mutter, Franziskas Oma, hantieren.

      „Hallo Frau Wagner.“

      „Hallo Jacob.“

      „Frank?“, fragte Minsky mehr aus Höflichkeit noch einmal. Franks Mutter zeigte nur auf den Balkon. Minsky schaute in die Richtung der Balkontür. Sein Blick schweifte durchs Wohnzimmer. Alles sah aus wie immer. Der Fernseher lief. Auf dem Tisch lagen Zeitungen. An der Wand hingen Fotos. Alle sorgsam gerahmt. Sie zeigten Frank mit irgendwelchen durchtrainierten Typen bei verschiedenen Wettbewerben. Hier ein Pokal, da ein Pokal, leicht bekleidete Frauen rechts, Schlipsträger links. Auch ein Bild mit ihm und Polizeidirektor Kuntz hing an der Wand. Dann fiel Minskys Blick auf das Bild von Franziska und ihrer Mutter. Frank hatte es damals aufgenommen. Fast vier Jahre war es nun her. Franziska und ihre Mutter saßen sich nackt